Keine Schauspielerin hat an den grossen Festivals so viele Preise gewonnen wie Isabelle Huppert: Sie triumphierte zweimal in Cannes, zweimal in Venedig und – wenn man den Goldenen Ehrenbären mitzählt – auch zweimal in Berlin. Dazu kommen drei Europäische Filmpreise, zwei Césars und ein Golden Globe. Nur zu einem Oscar hat’s der weitgereisten Pariserin bis dato nicht gereicht.
Das Image der weltgewandten Französin kommt der kleinen, feinen RTS-Koproduktion «Sidonie au Japon» sehr entgegen. Regisseurin Élise Girard nutzt dieses, um ihrer Heldin eine bedeutungsvolle Aura zu geben: Sidonie (Isabelle Huppert) ist eine renommierte Schriftstellerin, welche für die Neuauflage ihres ersten Buches nach Japan eingeladen wird.
Doch während Schauspielikone Huppert das Land der aufgehenden Sonne wie ihre Westentasche kennt, sind dessen Sitten ihrer Figur Sidonie völlig fremd. Das sorgt immer wieder für komische Momente in einem überraschend leichten Film, der schweren Stoff bewältigen will.
Vom Leben gezeichnet
Sidonie ist eine traumatisierte Frau, die es sich angewöhnt hat, auf Schicksalsschläge mit der Feder zu reagieren. Mit dem Schreiben begonnen hat sie einst, um den Unfalltod ihrer Eltern und ihres Bruders zu verarbeiten. Die junge Sidonie nutzte die Trauer als Motor, um ihre Karriere voranzutreiben. Die ältere Sidonie, die der Film zeigt, fühlt sich von der Trauer dagegen blockiert: Seit die gefeierte Autorin ihren Gatten Antoine verloren hat, bringt sie nichts mehr zu Papier.
Die Einladung des japanischen Verlegers Kenzo kommt ihr daher gerade recht. Oder doch nicht? Als sie stark verspätet am Flughafen eintrifft, hofft sie insgeheim, ihren Flug verpasst zu haben. Und als Sidonie schliesslich in Osaka landet, ist sie zunächst völlig neben den Schuhen, wie uns Huppert im Interview erzählt: «Sie ist ein wenig wie eine lebende Tote, als sie in Japan ankommt. Doch die Reise erweckt sie wieder zum Leben.»
Der Geist, den ich nicht rief
Im Hotelzimmer trifft Sidonie auf einen allzu vertrauten Mitbewohner. Ihr vor einigen Jahren verstorbener Ehemann Antoine – gespielt vom Deutschen August Diehl – ist als plaudernder Geist plötzlich wieder da. «Warum bist du zurückgekommen?», will Sidonie von der Liebe ihres Lebens wissen. «Ich bin nie weg gewesen», antwortet dieser bestimmt. Das stimmt wohl: Zumal Antoine in Sidonies Gedankenwelt seit seinem Tod präsenter war als je zuvor.
Neu ist allerdings, dass Sidonie nicht nur häufig an den Verstorbenen denkt, sondern ihn auch sieht. Das muss am Genius Loci liegen, suggeriert der Film, ohne transparent zu machen, wie ernst er das meint. «In Japan», sagt Kenzo an einer Stelle, «leben die Geister überall unter uns.» Auf jeden Fall gelingt es Sidonie erst hier, den Tod ihres Mannes so zu verarbeiten, dass sie endlich wieder mit Lust und Liebe leben kann.
Eloquentes Schweigen
Oft ist in «Sidonie au Japon» nicht erkennbar, ob Regisseurin Élise Girard nur mit Länderklischees spielt oder ihnen selbst aufsitzt. Vielleicht ist das aber auch gut so. Zumal die Dialoge nicht mit den Passagen mithalten können, in denen es Girard wagt, das Gerede wegzulassen.
Für Isabelle Huppert ist die Wortkargheit gar die Stärke des Films: «Obwohl die Leute schweigen, sagen sie uns recht viel – als ob man ihre Gedanken lesen könnte. Das finde ich sehr schön: Dieses Schweigen, das sich bei genauem Hinhören als eloquentes Schweigen entpuppt.»
Kinostart: 30.5.2024