Richard Billingham ist als Fotograf berühmt geworden, mit Porträts seiner Eltern. Nun erzählt er im Film «Ray & Liz» mit dem gleichen messerscharfen Blick, wie es war, in Birmingham auf aufzuwachsen.
Sie wohnten in einer verwahrlosten Sozialwohnung. Richards und Jasons Eltern waren überfordert, die Verwandten dysfunktional.
Sozialromantische Kampfkunst
Der «Kitchen Sink Realism» ist eine britische Erfindung. Filmemacher Ken Loach hat ihn mit seinem Drehbuchautor Paul Laverty zur sozialromantischen Kampfkunst weiterentwickelt.
Filme wie Trainspotting oder die frühen Gangster-Geschichten von Guy Ritchie haben ihn zu eigenständigen, karikierend hyperrealistischen Grotesken verfremdet. Dass nun ausgerechnet ein Fotograf dem Genre zurück auf die Füsse hilft, hat seine Richtigkeit.
Doch Richard Billingham hat keine politische Agenda wie Loach. Er macht sich weder zum Anwalt der kleinen Leute noch zum Komplizen. Und schon gar nicht macht er sich über sie lustig.
Seine tätowierte, übergewichtige Mutter, sein duckmäuserischer Alkoholikervater, die verschreckten Hunde in der Wohnung mit den Schnecken, den Fliegen, den Kaninchen, dem Aquarium, den scheusslichen Kitschbildern und dem ganzen Dreck – das alles rekonstruiert Billingham aus der Erinnerung.
Dabei sind es die präzisen Details, welche den Realismus schärfen: die halb heruntergerissenen Tapeten oder der verdreckte Herd. Die Gesten der Figuren, ihre Blicke, ihre Ticks und ihre heimliche Verzweiflung machen diesen Film nicht nur realistisch, sondern unangenehm.
Überfordert und verloren
Einmal bleibt Jason, Richards jüngerer Bruder, eine Nacht lang draussen. Er erfriert fast und löst damit die Sozialmaschinerie aus: Jason wird fremdplatziert.
Die Episode gipfelt in der erschütterndsten, beiläufigsten Szene des ganzen Films: Der halbwüchsige Richard fragt den hinausgehenden Sozialarbeiter, ob er nicht auch zu Pflegeeltern könne.
Worauf der abwinkt und sagt: «Du bist bald erwachsen. Halte durch und hilf dir selber.»
Billingham schildert mit vordergründig neutraler Präzision ein Sozialsystem, das nicht hilft, sondern das Überleben knapp sichert. Ray und Liz sind verloren. Ihre Söhne richten sich ein und schlagen sich durch.
Präzise und klar
Anders als bei Ken Loach zeigt der Film keine Mechanismen, keine Profiteure, bloss Symptome einer zerfallenden Welt. Wer es nicht rechtzeitig rausschafft, muss sich damit abfinden – wie der Hund, um den sich niemand kümmert, und der auf den Fussboden pinkelt.
«Ray & Liz» ist ein präziser, klarsichtiger Film. In seiner Verdichtung ist er dokumentarischer und effizienter, als es ein Dokumentarfilm je sein könnte.
Im Kino ab 9.5.2019