Eine Motorradfahrt über sämtliche Rotlichter der Zürcher Langstrasse gibt das Tempo vor. Gabriel (Pablo Caprez) hat sich mit seinem Rollbrett angehängt, sein bester Freund Joel (Tonatiu Radhzi) ist der Fahrer, und das reine Leben gewinnt in diesem Spiel mit dem Tod. Gegen Ende des Films wird die Fahrt wiederholt. Wie sie wohl diesmal ausgeht?
Im Rausch der Bilder
Die Konstellation von «Soul of a Beast» folgt dem ewigen Planetarium des Kinomelodrams. Gabriel ist nicht mehr so frei, wie er gerne wäre. Er betreut in seiner Langstrassenwohnung seinen kleinen Sohn Jamie, den er mit der psychisch ausgeklinkten Goldküstenprinzessin Zoé (Luna Wedler) gezeugt hat. Die aber liegt im Palast ihrer Mutter im Bett und hat den Boden unter den Füssen verloren.
Zoés böse Mutter ist Nachrichtensprecherin und erklärt der Welt auf TV24 die Welt – auf Französisch. Sie wird von Lolita Chammah gespielt, der Tochter von Isabelle Huppert. Der Film hat ausserdem einen japanischen Erzähler, der eindrückliche Manga-Sätze über die Bilder spricht. Zürich sieht aus wie ein schmutziges Tokio.
Das Drama bricht aus, als sich Gabriel auf den ersten Blick in Joels neue Freundin Corey (Ella Rumpf) verliebt, nachdem die drei im nächtlichen Mescalin-Rausch Zoo-Tiere befreien, darunter ein Puma-Paar und eine Giraffe.
Zuweilen erinnert das an David Lynchs «Wild at Heart». Das liegt daran, dass auch dieser Film nicht irgendeine Geschichte erzählt, sondern essenzielles Kino sein will – so wie Wong Kar-Wais «In the Mood for Love», wie die indischen Melodramen, die Gabriel einmal beschwört und wie die Mangas und Wuxia-Schwertkämpferfilme, die «Soul of a Beast» evoziert.
Ein dramatischer Tagtraum
Corey erklärt Gabriel ihre Verliebtheit in wenigen Sätzen: Er löse in ihr ein Gefühl aus, das sie seit Kindheit immer gehabt hätte. Ein Gefühl, dass es keine Zeit gäbe, dass sie alles tun könne, dass alles möglich sei.
Das ist das Herz von «Soul of a Beast» – oder eben die Seele: Diese grosse, schmerzliche Sehnsucht, die das Kino immer sucht, den dramatischen Tagtraum, den Rausch, den Absturz, der zum Höhenflug wird.
Das gelingt Lorenz Merz und seinen vielen Mitkünstlerinnen und Mitkünstlern fast durchgehend. Nicht nur die Bilder und die Montage fliegen und rauschen, auch die Musik entfaltet in Form von klassischen Hollywood-Streichern ihre Magie. Nur um dann zu verstummen zur Stille im Wald, die das grossartige Sounddesign dieses Films erst richtig zur Geltung kommen lässt.
Kitsch, Abstürze und Overdrive
Auch die jungen Wilden werden älter. Lorenz Merz, geboren 1981, anerkennt mit «Soul of a Beast» die vorgespurte Kino-Essenz unserer Träume und Ängste.
Sein neuer Film ist zugleich ein eigenständiges Kunstwerk und die Summe all dessen, was dazu geführt hat. Und dazu gehören der Kitsch, die Abstürze und der Overdrive, ja selbst die Längen und die Wiederholungen.
«Ein einsames Kind hat nur seine Vorstellungskraft», sagt die japanische Stimme einmal. Wenn das Kind kein Kind mehr ist, hat es dazu noch die Erinnerungen. Die eigenen und die gemachten, vom Kino geschenkten. Die Seele dieses Biestes ist das Kino selbst.
Kinostart: 14.4.2022