Als «West Side Story» vor 60 Jahren in den Kinos lief, war der Film eine Sensation, die zurecht mit 10 Oscars honoriert wurde. Und die das Musical, das vier Jahre zuvor am Broadway seine Premiere gefeiert hatte, erst richtig erfolgreich machte.
Bis heute gilt das von «Romeo und Julia» inspirierte New Yorker Liebesdrama als eines der besten Musicals aller Zeiten. Nicht zuletzt, weil es dem kürzlich verstorbenen Songtexter Steven Sondheim gelungen war, Leonard Bernsteins Kompositionen mit aufwühlender Gesellschaftskritik aufzuladen.
Die äusserst modern inszenierte Leinwandadaption von 1961 hatte Rasse und Klasse. Was bestens passte, denn darum dreht sich die Geschichte ja: um Rasse und Klasse.
Magie des ersten Mals
Der hellhäutige Tony verknallt sich in eine Latina namens Maria, währenddem sich ihre Liebsten Saures geben. Auf dem Weg zum grossen Knall lernt das Publikum in einem Gassenhauer das Klagelied der diskriminierten puerto-ricanischen Community kennen: «Life is alright in America, if you’re all-white in America!» («Es lässt sich gut leben in Amerika, solange die eigene Hautfarbe ganz weiss ist.»)
Mit Blick auf die Black-Lives-Matter-Proteste klingt das, was die «West Side Story» vor 60 Jahren im Kino erzählte, immer noch beklemmend aktuell. Auf die heutigen Verhältnisse gemünzt, könnte eine Neuverfilmung also durchaus Sinn machen.
Spielbergs Plan, «einen Film für unsere Zeit zu drehen – mit zeitgemässen Werten, denen wir uns verschrieben haben», versprach grosses Kino. Zumal er für seine allererste Musical-Verfilmung kein werkgetreues Remake des Filmklassikers schaffen wollte. Er stellte vielmehr in Aussicht, das Broadwaystück völlig neu zu denken.
Politisch korrekte Nostalgie
Eine «West Side Story», die in Trumps Amerika spielt, wäre zum Beispiel sehr reizvoll gewesen. Und vor allem: radikal anders. Spielberg und sein Drehbuchautor Tony Kushner präferierten dagegen einen vorsichtigeren Ansatz: Ihre «West Side Story» spielt immer noch im New York der späten 50er-Jahre.
Neu ist eigentlich nur der historische Hintergrund, welcher den rassistisch gefärbten Bandenkrieg auf das geteilte Elend seiner bunt gemischten Bevölkerung zurückführt. Damals kam es in Manhattan im Zuge der Gentrifizierung zu zahlreichen Zwangsenteignungen zwischen der 60. und 72. Strasse. Für die Vertriebenen ging damit ein Stück Heimat verloren. Was zu Spannungen unter all jenen führte, die sich mühsam ein kleines Revier erobert hatten.
Die restlichen Änderungen, die Spielberg und Kushner vornahmen, sind kaum der Rede wert. Was die zwei für bahnbrechende Neuerungen halten, dürfte sich fürs breite Publikum wie feine Retuschen anfühlen.
So wurden problematische Textstellen konsequent entfernt: Zum Beispiel die Songzeile, in der eine Puerto-Ricanerin ihre Geburtsinsel als «hässlicher Hort tropischer Krankheiten» charakterisiert.
Nette kleine Schwester
Spielbergs «West Side Story» ist im Kontext seiner Zeit viel braver, als es das legendäre Musical von 1957 und die innovative Verfilmung von 1961 gewesen sind.
Beim Gesang und Tanz gibt’s dagegen nichts zu meckern. Vor allem Hauptdarstellerin Rachel Zegler, die sich im Casting gegen über 30 000 Mitbewerberinnen durchsetzen musste, macht ihre Sache grossartig.
Als missglückt kann Steven Spielbergs Musical-Premiere darum nicht bezeichnet werden. Eher als grundsolider, wenn auch etwas mutloser Genre-Erstling. Ganz nett also. Und von wem nett die kleine Schwester ist, muss ja nicht jeder wissen.
Kinostart: 9. Dezember 2021