Sie nannten sie «das blonde Gespenst»: Weil Stella Goldschlag auf unheimliche Art und Weise Hunderte jüdische Mitmenschen den Nazis in den Kriegsjahren ans Messer geliefert hat.
Zum ersten Verrat wird die junge Frau noch von der Gestapo – mit der Pistole am Kopf – gezwungen. Später, so erzählt es der Film zumindest, übt sie ihre Arbeit als «Greiferin» aber nicht mehr nur aus, um ihre eigene Haut zu retten. Sondern auch aus einer perversen Trotzreaktion gegen ihr eigenes Jüdisch-Sein heraus.
Darf, soll oder muss man das erzählen?
Die wahre Lebensgeschichte einer Jüdin, die vom Opfer zur Täterin mutiert – damit begibt man sich freilich auf ein Minenfeld. Entsprechend gross war daher der Aufschrei schon vor fünf Jahren, nachdem der Autor Takis Würger den Stoff zu einer Art Abenteuerroman «Stella» verarbeitet hatte. Ein Musical existiert neben etlichen Dok- und Fernsehfilmen ebenfalls längst – dieses feierte bereits 2016 Premiere.
Was ist also wirklich neu an Kilian Riedhoffs «Stella. Ein Leben.»? Anders als die bisherigen Adaptionen erzählt der deutsche Regisseur die aufsehenerregende Story nun aus Stellas Sicht. «Um das Publikum ganz der Ambivalenz dieser Figur auszusetzen», wie Riedhoff im Interview erläutert: «Das ist nicht einfach, weil Filmfiguren natürlich auch immer ein grosses Mass an Sympathie mitbringen müssen.»
NZZ-Filmkritiker Andreas Scheiner findet diesen Ansatz höchst problematisch: «Ich kann nachvollziehen, dass man versucht, die Figur fürs Publikum anschlussfähig zu machen. Und es ist natürlich auch richtig, eine Figur so zu zeichnen, dass man ihre Beweggründe versteht. Doch wenn man diesen Aspekt zu stark betont, riskiert man, dass sich das Publikum sagt: Es ist ja nur allzu verständlich, dass sich Stella zu einer so schlechten Person entwickelte.»
Beschwingter Start mit einer, die ein Star werden wollte
Das Kinopublikum lernt die berühmt-berüchtigte Titelfigur zunächst als charismatisches Energiebündel kennen. Die selbstverliebte 18-Jährige will das, was die meisten in ihrem Alter wollen: Das Leben auskosten. Der moralische Abstieg der fröhlichen Hedonistin zur dumpfen Nihilistin geschieht stufenweise, nachdem sie selbst massiv verfolgt und misshandelt wurde.
Hauptdarstellerin Paula Beer gibt mit ihrem intensiven Spiel alles, um Stella Goldschlag sowohl als Opfer als auch als Täterin greifbar zu machen. Ein Spagat, mit dem «Stella. Ein Leben.» die Dehnbarkeit moralischer Grenzen bewusst strapaziert.
Regisseur Kilian Riedhoff legt grossen Wert darauf, «die Identifikation mit Stella zuzulassen – so weit es geht». Zentral sei, «dass wir zu ihr eine schreckliche Nähe spüren», der man sich nicht entziehen könne: «Damit wir uns darin immer wieder selbst entdecken und uns fragen: Wie hätten wir selbst gehandelt?»
Kein eindeutiges Urteil
Die mit Schweizer Beteiligung realisierte 12-Millionen-Euro-Produktion versucht das Unmögliche: Stella zu verstehen, ohne ihren Untaten volles Verständnis entgegenzubringen. Reue, das umstrittene Projekt ausgerechnet jetzt inszeniert zu haben, empfindet Regisseur Riedhoff nicht:
«Wenn ich diese Geschichten nicht mehr erzähle, dann mache ich einen grossen Fehler. Ich habe eine Verantwortung. Denn ich erzähle, wie das Land meiner Vorfahren Menschen dazu gebracht hat, zu verraten. Dazu habe ich eine totale Verantwortung. Das nicht zu erzählen, wäre ein Fehler.»
Kinostart: 1.2.2024