Das Titan des Filmtitels hat die Hauptfigur Alexia (Agathe Rousselle) direkt über dem Ohr in der Seite ihres Schädels implantiert. Den Grund dafür liefert bereits die Eröffnungssequenz des Films: Alexia hat als kleines Mädchen ihren Vater zu einem Unfall provoziert – mit trotzigen Tritten in die Rücklehne vom Autorücksitz aus.
Nach einem ersten Zeitsprung erleben wir sie als Tänzerin an einer Auto-Show. Sie räkelt sich nicht nur 1980er-jahremässig auf Motorhauben, sondern entwickelt offensichtlich eine körperliche Beziehung zu den Blechkisten.
Brutal und berührend
In der ersten halben Stunde des Filmes kommen mindestens vier Menschen ausgesprochen brutal und blutig zu Tode, Alexia hat ausserdem Sex mit einem Ausstellungsboliden. Davon wird sie blitzartig schwanger, ihr Bauch schwillt schmerzhaft an, Motorenöl fliesst aus. Das ist der logische Teil des Films.
Im zweiten, längeren Teil verwandelt sich Alexia auf der Flucht vor der Polizei in den vor Jahren verschwundenen Sohn des Feuerwehrkommandanten Vincent (Vincent Lindon). Sie bindet sich Bauch und Brüste ein, bricht sich die Nase und schneidet die Haare ab. Vincent akzeptiert sie ohne Wenn und Aber als seinen verlorenen Sohn.
Auch da entwickelt der Film wieder seine eigene Logik. Der grobe Vater, die «Village-People»-ähnliche Feuerwehrtruppe aus lauter attraktiven jungen Macho-Männern sind eine surreale Umgebung für die als junger Mann getarnte Biomechanoidin. Ganz zu schweigen von der väterlichen Liebe, die allem Irrsinn zum Trotz aufzukeimen beginnt.
Über seinen Sohn werde nicht diskutiert, erklärt Vincent seiner Mannschaft. Was er, ihr Kommandant, denn für sie alle sei? Gott natürlich. Und damit sei sein Sohn Jesus. Punkt.
Spiel mit Identitäten
Mit «Titane» dockt Ducournau bei einem ganz Grossen des modernen Body-Horrors an: bei David Cronenberg. Genauer: bei dessen J.G. Ballard-Verfilmung «Crash» von 1996.
Das war der Versuch, der Erotik von Automobilen und Autounfällen über eine Gruppe von Unfall-Fetischisten näher zu kommen. Der Film liess vieles anklingen: von der gewaltsamen Verbindung von Körpern und Metall über Cyborg-Fantasien bis zur brachial-einfachen Gleichsetzung von Crash und Penetration.
«Titane» liefert. Body-Horror ist da, Gewalt, die Verbindung von Mechanik und Körper, Metall und Fleisch. Dazu der Schrecken über Verwandlungen, über wachsende Fremdkörper im Körper, die Unmöglichkeit Selbstbild und Fremdwahrnehmung zu versöhnen (wörtlich!) und vieles mehr.
Subversive Schockwerte
«Titane» ist kein Kinovergnügen, sondern eine Art Bildersturm. Und dafür hat Ducournau in Cannes wohl auch die goldene Palme bekommen.
Der Film verursacht fast durchgehend körperliches Unbehagen. Er bringt sowohl abgebrühte Horrorfilm-Fans als auch aufgeschlossen genderfluid denkende Menschen an ihre Grenzen. Und dies, ohne im Detail besonders originell oder gar einfallsreich zu sein.
Julia Ducournau spielt virtuos mit den Möglichkeiten des auf subversive Schockwerte getrimmten Genre-Kinos und mit dem klassischen Bodyhorror, also mit der eigentlich von der Gentechnologie überflüssig gemachten Idee des Biomechanoiden.
So gesehen ist der Film nicht nur eine Herausforderung, sondern eine paradoxe Wohltat, ein physisches Kinoerlebnis, eine Rarität in unseren Zeiten computergenerierter Leinwandwelten.
Kinostart: 07.10.2021