Die Welt von Regisseur Arnaud Desplechin ist ein zügelloses, ausuferndes Universum. Seine seltsamen Antihelden im aktuellen Film «Les fantômes d’Ismaël», die Brüder Ismaël und Ivan, sind konkurrierende Alter Egos des Filmemachers.
Ismaël (Mathieu Amalric) ist ein Filmemacher, die Astrophysikerin Sylvia (Charlotte Gainsbourg) seine Freundin. Sylvia hat sich und Ismaëls kreatives, von Albträumen und Alkohol durchzogenes Chaos gut im Griff. Bis am Strand plötzlich Ismaëls Frau Carlotta (Marion Cotillard) vor ihr steht – die vor über 20 Jahren verschwunden ist.
Vom Publikum verehrt, von der Partnerin verklagt
Arnaud Desplechin erzählt diszipliniert. Es ist oft nicht auszumachen, wo das Leben aufhört und wo seine Filme anfangen. Unter anderem darum wurde Desplechin in den 1990er-Jahren zur Symbolfigur eines neuen französischen Kinos.
Sein Publikum folgte zunehmend fasziniert seinen Figuren und seiner Biografie, die sich gegenseitig zu durchdringen und überlagern schienen.
Das ging so weit, dass ihn seine langjährige Lieblingsschauspielerin, Muse und Lebenspartnerin Marianne Denicourt verklagte.
Druchdringung von Klatsch und Kunst
Mit einer Journalistin zusammen schrieb sie ein Buch über das «Mauvais génie». Desplechin habe intime und private Details aus ihrem Leben als Filmstoff missbraucht, warf sie ihm vor.
Für den Filmemacher war das peinlich und wohl auch etwas entlarvend. Aber seinem Universum hat das weitere Tiefen verliehen. Was könnte es für die intellektuellen, cinéphilen Pariser Schöneres geben, als die komplette Durchdringung von Gesellschaftsklatsch und Kunst?
Niemand wird verschont
«Les fantômes d'Ismaël» ist ein Film, der so nur in Frankreich entstehen konnte.
Ausserhalb dieses intellektuellen Bezugssystems dürfte er auf wenig Verständnis und Gegenliebe stossen. Desplechin schlägt seine Wurzeln in alles.
Er verschont keines seiner Vorbilder und keine seiner künstlerischen Lieben. Er holt sich Figurennamen bei James Joyce, Charaktere aus seinem Freundeskreis, Stil und Dramaturgie bei bewunderten Filmemachern von Fellini bis Truffaut.
Desplechin ist ein hungriges Chamäleon, ein Mensch, der sich Leidenschaften erschreibt und Frauenfiguren erträumt, alles durcheinander mischt und aufeinander los lässt. Dies macht er stets mit Charme und einer Furchtlosigkeit, die an Verzweiflung grenzt.
Drama für die Figuren, ein Bijoux für Cinéphile
Die Frauen: In «Les fantômes d’Ismaël» verzweifelt Sylvia schier ob der plötzlich aufgetauchten Konkurrentin Carlotta und verzehrt sich vor Eifersucht. Carlotta schiebt enigmatisch lächelnd die fehlenden 21 Jahre beiseite. Sie setzt auf das Hier und Jetzt – und die nackte körperliche Gegenwart.
Und die Männer? Ismaël ist lebendig bis zum Überfluss, impulsiv und getrieben. Der naive Melancholiker Ivan ist getrieben und gesteuert von seiner Freundin. Und schliesslich ist da Carlottas Vater (László Szabó), der das Verschwinden der Tochter nie verwunden hat und nun an ihrem Wiederauftauchen zerbricht.
«Les fantômes d'Ismaël» ist Komödie, Parodie und Film im Film. Ironisch, gebrochen, roh und geschliffen, Kunst und Handwerk in einem, eine höchst lebendige Zumutung für jenen kleinen Kreis altgedienter Cinéphiler, die ihr Herz noch immer in Frankreich suchen und finden.
Kinostart: 23.11.2017
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 18.5.2017, 7.20 Uhr