2017 gewann die französische Regisseurin Léonor Seraille für «Jeune femme» die Goldene Kamera von Cannes. So standen ihr für ihren neuen Film mehr Mittel zur Verfügung. Sie hat diese für einen weiteren bewundernswerten und bewundernden Film über eine Frau genutzt, welche die Freiheit im Kopf hat, «dans la tête».
Neu anfangen und keine Schwäche zeigen
In «Un petit frère» kommt Rose in den 1980er-Jahren mit ihren zwei jüngeren Söhnen von der Elfenbeinküste nach Paris. Die drei wohnen zunächst in einem besseren Wandschrank bei Freunden. Rose setzt alles daran, bei ihren Söhnen Disziplin und Ehrgeiz in der Schule zu fördern.
Weinen, das geht nicht: Wir weinen nicht, wenn uns jemand sieht. Klar? «Il faut pleurer dans la tête», erklärt Ernest, der jüngere der beiden, was Rose erfreut bestätigt. Weinen darf man nur im Kopf.
Ein reges Liebesleben
Der ältere Sohn Jean ist der Erzähler der Geschichte. Zumindest in den ersten Minuten sind es seine Erinnerungen und seine Charakterisierung der Mutter. Später verlässt sich Seraille auf rein filmische Mittel für einzelne Perspektivenwechsel.
Wir erleben, wie die junge Frau einen Mann abblitzen lässt, den der Freundeskreis für sie ausgesucht hat. Stattdessen lacht sie sich durch das Fenster im Hotel, in dem sie als Zimmermädchen arbeitet, einen Zimmermann an.
Es bleibt nicht bei diesem einen. «Ich suche mir meine Männer selbst aus», erklärt Rose. Das tut sie wohl auch, weil ihr erster Mann ein alter Kerl gewesen sei, der zum Glück bald gestorben sei. Und der nächste ein Grobian. Die älteren Brüder von Jean und Ernest hat Rose an der Elfenbeinküste bei Verwandten zurückgelassen.
20 Jahre Höhen und Tiefen
«Un petit frère» erzählt über 20 Jahre hinweg von der Kindheit und der Jugend von Ernest und Jean und vom Leben ihrer stolzen Mutter, die viele ihrer Geheimnisse nicht einmal mit ihren Kindern teilt.
Der Film erzählt, wie Jean an den Ansprüchen scheitert, wie er vom Spitzenschüler zum Studienversager wird. Auch, weil er sich um den jüngeren Bruder kümmern muss in der Wohnung in Rouen. Diese finanziert ein Liebhaber der Mutter, während sie die Woche durch weiterhin im Pariser Hotel arbeitet.
Während die Söhne schliesslich von erwachsenen Darstellern gespielt werden, altert Annabelle Lengronne in der Rolle der Rose souverän und hinreissend. Bis es mit Jean schwierig wird, weil der Liebhaber mit seiner Ehefrau unerwartet ein Kind bekommt.
Klug und komplex
Einen subtileren, raffinierteren Film zu den komplexen Wechselwirkungen zwischen der weissen französischen Gesellschaft, dem Selbstverständnis der Generationen und den Erwartungen der Eingewanderten an sich selbst und die eigene Zukunft gibt es so schnell nicht zu sehen.
Léonor Seraille geht über die ökonomischen und gesellschaftlichen Zwänge hinaus. Sie geht der Gesellschaft auch philosophisch auf den Grund. Etwa, wenn Ernest später als Philosophielehrer über die Idee der Freiheit spricht – und ein Mutter-Sohn-Treffen ihr völlig entgegenläuft.
«Un petit frère» ist ein komplexer Film, der sich einfach schauen und verstehen lässt. Ein Genuss mit Spitzen.
Kinostart: 22.6.2023