«Unrueh» kann vieles bedeuten, nicht nur das Gegenteil von Ruhe und Ordnung. In der Uhrenproduktion ist damit das Herz eines Zeitmessers gemeint, welches dessen Mechanik in Schwung hält. Regisseur Cyril Schäublin fasziniert das facettenreiche Wort – allein schon aus biografischen Gründen.
«Viele Frauen in meiner Familie waren in der Uhrenindustrie tätig», erklärt der 38-Jährige. Darum habe er sich schon früh gewünscht, einen Film über ihre Zeit als Fabrikarbeiterinnen zu drehen. Besonders, weil er so auch der anarchistisch geprägten Gewerkschaftsbewegung Aufmerksamkeit schenken konnte.
«Unrueh» erzählt darum auch von einem russischen Kartografen, der 1877 im Jura zu seiner politischen Gesinnung findet. Sein Name: Pjotr Kropotkin, weithin bekannt als einer der einflussreichsten Denker des kommunistischen Anarchismus.
Dezentralisierung als politische Maxime
Was der Film unter Anarchismus versteht, wird schon im ersten Dialog geklärt – auf Russisch notabene: «Es ist wie der Kommunismus, nur ohne Regierung.» Ein System also, das darauf vertraut, dass sich die Arbeiterschaft in lokalen Verbünden selbst reguliert. Vorausahnend, dass zentralistische Strukturen nicht bloss im Kapitalismus zu Ausbeutung und Entfremdung führen würden.
Der erste Kongress dieser neuen Bewegung, welche sich «Erste anti-autoritäre Internationale» nannte, fand vor 150 Jahren in der Schweiz statt. Genauer: In der jurassischen Gemeinde St. Imier, die vor allem für ihre Uhrenfabriken bekannt war, bevor sie zum Hotspot des Anarchismus avancierte.
Den meisten Industriellen war diese Entwicklung freilich ein Dorn im Auge. Wer in einer Fabrik arbeitete und parallel dazu für eine anarchistische Genossenschaft tätig war, riskierte sofort entlassen zu werden. Dass sich dennoch viele gewerkschaftlich engagierten, kann leicht durch fehlende Sozialleistungen erklärt werden: So hatte eine unverheiratete Arbeiterin damals zum Beispiel kein Anrecht auf eine Krankenversicherung.
Dezentralisierung als visuelles Stilprinzip
Nicht nur inhaltlich kreist «Unrueh» um sozial relevante Themen wie Macht, Repräsentation und Umverteilung. Auch formal stellt der Film mit fast schon revolutionär anmutenden Bildkompositionen althergebrachte Hierarchien infrage.
So platziert Regisseur Cyril Schäublin seine Figuren meist nicht prominent in der Mitte, sondern irgendwo an den Rändern. Was das Publikum quasi dazu zwingt, über die Organisation des eigenen Blicks nachzudenken. Im Zentrum steht die kapitalistische Maschinerie, welche Individuen zu kleinen Rädchen im Uhrwerk umfunktioniert.
Die Dialoge, in denen Menschen hinter Zahlen verschwinden, legen ein klares Zeugnis davon ab. Wie in seinem Erstling «Dene wos guet geit» möchte Schäublin damit primär Entfremdung sichtbar machen. Seine Charaktere leben in einer durchkalkulierten Welt, in der sie selbst bloss Nummern sind.
Entschleunigung mit Mehrwert
Künstlerisch klingt das interessant und für Festival-erprobte Cinephile ist es das gewiss auch. Auf der letzten Berlinale gewann Schäublin für sein maximal entschleunigtes Kino-Experiment zurecht einen Regiepreis.
Ungeduldige seien jedoch gewarnt: Es ist definitiv nicht die Handlung, die «Unrueh» antreibt. Zumal der Slow-Motion-Plot dieser präzisen Kapitalismus-Fabel keine Anstalten macht, irgendwo anzukommen.
Kinostart: 17.11.2022