Wie bringt man einen Teenager, der Aussenseiter schikaniert, dazu, Mitgefühl zu entwickeln? Indem man ihm aus erster Hand schildert, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu werden. Genau das macht eine Oma (Oscarpreisträgerin Helen Mirren) in «White Bird», um ihren verzogenen New Yorker Enkel Julian zu transformieren.
Grandmère Sara verbrachte ihre Jugend mit ihren jüdischen Eltern im Elsass, knapp ausserhalb der deutschen Besatzungszone. Obwohl in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, fühlte sich die hübsche Sara in ihrem idyllischen Dorf lange geborgen. Dies änderte sich schlagartig, als die Nazis im Herbst 1942 auch in der französischen Provinz damit begannen, Juden zu deportieren. Überlebt hat Sara nur dank eines Klassenkameraden, dem sie wegen dessen Gehbehinderung zuvor aus dem Weg gegangen war.
Pardon my French
Der grossherzige Junge, der Sara in der Scheune seiner Eltern vor den Nazis versteckt, ist der eigentliche Held von Marc Forsters neustem Film. Sein Name ist Julien, doch in der Schule wird er aufgrund seiner hinkenden Fortbewegungsweise nur «Krabbe» genannt. Beziehungsweise «Tourteau», zumal die Handlung ja in Frankreich spielt. Das ergibt mehr Sinn als der Umstand, dass in Forsters Elsass alle Einheimischen Englisch mit französischem Akzent sprechen.
Aus kommerzieller Sicht mag die Absicht, das US-Zielpublikum durch den Akzent spüren zu lassen, wo die Handlung spielt, nachvollziehbar sein. Aus künstlerischer Sicht ist sie eine Bankrotterklärung, die vor allem Französisch sprechende Menschen befremden dürfte.
Die Besetzung scheint ebenfalls primär den Gesetzen der Vermarktung zu gehorchen. Natürlich ist Helen Mirren eine grandiose Schauspielerin und klar wissen wir, dass sie fliessend Französisch parliert. Doch so gut ihre Fremdsprachenkenntnisse auch sein mögen: Als gebürtige Französin, wie es die Rolle vorgibt, geht die Britin nicht durch. Auch wenn tunlichst darauf geachtet wurde, dass keine Fehler ihre penetrant platzierten französischen Einsprengsel beschmutzen.
Julian soll Juliens Beispiel folgen
«Mémé» Sara fordert ihren Enkel Julian und das Publikum mit ihrer gefühlsgeladenen Geschichte dazu auf, in Juliens Fussstapfen zu treten. Doch anders als Julien ist Julian nicht gerade die personifizierte Nächstenliebe ...
Je grösser der Wandel, desto grösser der Effekt, dürfte sich Schriftstellerin R.J. Palacio gesagt haben, auf deren Jugendbuch Marc Forsters Drama basiert. Entworfen hatte die New Yorkerin Julians kantigen Charakter für ihren Debütroman «Wonder», der 2017 verfilmt wurde.
Um zu betonen, dass es sich in «White Bird» um dieselbe Person handelt, spielt Bryce Gheisar erneut den ungeschliffenen Halbstarken. Umgemünzt in die einzige Sprache, die in Hollywood wirklich zählt, heisst das: «White Bird» ist die Fortsetzung einer Bestsellerverfilmung.
Kitschige Fiktion, die den Holocaust trivialisiert
In dieser erschaffen sich der verliebte Julien (Orlando Schwerdt) und seine Angebetete Sara (Ariella Glaser) eine magisch anmutende Gegenwelt, die den Schrecken des Holocausts weitgehend ausblendet. Irgendwann fliegt dann auch noch die titelgebende weisse Taube in ihr Versteck.
Als Vorbotin des Friedens gedacht, verkörpert diese das Grundproblem des Films: Der Judenverfolgung mit solch blütenweissen Allegorien zu begegnen, zeugt nicht von Mitgefühl, sondern schlechtem Geschmack.
Kinostart: 9.5.2024