Der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper) wird beschuldigt, seine Mitschülerin Katie erstochen zu haben. Es herrscht Fassungslosigkeit, Ohnmacht. Die britische Miniserie «Adolescence» folgt dem Fall in vier Folgen und einem Konzept: Jede Episode ist ein sogenannter «One-Shot» – die Kamera verfolgt das Geschehen in vermeintlicher Echtzeit, ohne einen einzigen Schnitt.
Verrohung der Jugend
Das Publikum wird mittels wackelnder Handkamera quasi in die Szenerie gestossen, ist hautnah dabei, wenn die Polizei das Elternhaus stürmt, wenn der Junge sich während seiner Verhaftung aus Angst einnässt und schliesslich zum ersten Verhör auf die Polizeiwache in Handschellen abgeführt wird.
Es folgt eine zweite Episode, in der die Polizei versucht, an der Schule von Jamie das Motiv für seine bereits bewiesene Tat zu ermitteln. Auch hier: Verhöre von Schülern, ungeschnitten.
Mobbing und toxische Männlichkeit
Die Kamera schwenkt von einer Person auf die andere, auf der einen Seite fassungslose Beamte, auf der anderen, die von den «sozialen» Medien vereinnahmten, von der Gesellschaft vergessenen, verrohten Jugendlichen.
Eine dritte Folge zeigt eine Psychologin im Zwiegespräch mit dem minderjährigen Täter. Bis die Kamera schliesslich in der vierten Episode und 13 Monate nach der Verhaftung die Restfamilie begleitet: Die versucht, trotz der monströsen Tat des Sohnes, ein normales Leben zu führen. Ein aussichtsloses Unterfangen.
Das ist Stoff, der vieles bietet: Betroffenheit angesichts der Hilflosigkeit der Erwachsenen, Entsetzen gegenüber der Tat und dem Verhalten des Jugendlichen, Sprachlosigkeit aufgrund der Brutalität, die sich vor allem durch die «sozialen» Medien im adoleszenten Alltag manifestiert. Es geht um Mobbing, toxische Männlichkeit, aber schlicht auch darum, sich in einer Welt zurechtzufinden, die offenbar zunehmend feindlich auf ihre jugendlichen Bewohner einwirkt.
Die Opferperspektive fehlt
Unter dem strengen Konzept der Serie leidet jedoch ihr Inhalt. Durch die schnittlosen Kamerafahrten sind räumliche Wechsel und Zeitabläufe äusserst reglementiert, was Tiefgang verunmöglicht. Rückblenden, die einen Tathergang rekonstruieren könnten oder ein kindliches Trauma des Täters aufzeigen, werden ausschliesslich über Dialoge vermittelt und bleiben so Behauptung.
Schauspieler und Serienvater Stephen Graham hat das Drehbuch gemeinsam mit Regisseur Jack Thorne geschrieben. Laut einem Interview mit der BBC wollte das Duo ergründen, was mit einer Gesellschaft los sei, in der solche Vorfälle zur Normalität zu werden scheinen. Diesem Anspruch wird die Serie aber nicht gerecht.
Eine andere Serie, die sich auch mit der Brutalität unter Jugendlichen beschäftigt und gerade auf Disney+ gestreamt werden kann, ist «Under The Bridge» (2024).
True Crime mal anders
Sie beruht auf einer wahren Geschichte. Und zeigt neben den Tätern das, was im Genre (True)-Crime häufig und leider auch in der Serie «Adolescence» komplett vergessen geht: die Perspektive des Opfers und der Opferfamilie.
Am Ende hallt das konservativ erzählte «Under The Bridge» sehr viel länger nach und führt ausserdem zu einer überraschenden Einsicht: In den 1990er-Jahren, in der die Geschichte spielt, konnten Auseinandersetzungen unter Jugendlichen ebenfalls tödlich enden. Trotz fehlender «sozialer» Medien.