Neu im Stream - Ein Bad im Tränenmeer – der Federer-Film «Twelve Final Days»
Eine feucht-fröhliche Verbeugung vor dem Fabelhaften: Dem Fan wird sie nahe gehen – doch Roger selbst kommt man nicht wirklich näher. Und was sagt Heinz Günthardt?
Weinen oder nicht weinen? Das ist hier nicht die Frage. Roger Federer ist bekanntlich nah am Wasser gebaut. «16'500 Leute da in London – alle haben geflennt», sagt er in «Twelve Finale Days», und schon werden seine Augen wieder feucht. Das allerletzte Kapitel dieses wahren Tennismärchens: eine Niederlage am Laver Cup, aber noch ein paar Herzen dazugewonnen.
Die Magie des «Maestro»
Jetzt serviert Federer seinen Fans einen Dokumentarfilm über die letzte Etappe seiner langen Laufbahn, die am 23. September 2022 in London zu Ende ging – genau 465 Tage nach seinem letztem Echt-Ernstkampf zu Wimbledon. Das Knie machte schon länger Zirkus. Weitere Vorstellungen, die Federers Vorstellungen von Tenniskunst entsprachen: undenkbar.
05:35
Video
Aus dem Archiv: Was Federers Spiel zu Kunst macht
Aus Kulturplatz vom 23.11.2011.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 35 Sekunden.
Hat es den Film gebraucht? «Natürlich nicht», sagt Heinz Günthardt, lange Jahre Tennis-Experte im Hause SRF. «Aber man soll die Feste feiern, wie sie fallen.» «Mister Perfect» mache auch das wie alles andere: nämlich richtig.
Es sind alle so nett
Federer hat es immer verstanden, sein privates Ich vom sportlichen Ego zu trennen. Wer mit «Twelve Final Days» also intime Blicke durch irgendwelche Schlüssellöcher zu erhaschen erwartet, ist an der falschen Adresse. Am tiefsten blicken lässt die Szene, in der wir zufällig mitschneiden, dass Federer seine Mirka «Bebele» nennt.
Nicht minder, ja, zärtlich: Die Superlative der Granden, wenn sie Federer als vielleicht einzigen feiern, der «grösser ist als sein Sport». King Roger seinerseits verbeugt sich im Stile des Elder Statesman vor seinen ewigen Erzrivalen Novak Djokovic («Er war der Party-Crasher!») und Rafael Nadal («Ich habe ihn nicht gebraucht»), dem er längst freundschaftlich verbunden ist.
«Die Leute erwarten es von mir»
Ans Herz legen darf man diesen Film jenen Federer-Verehrenden, die eines Tages dem Stress nicht mehr gewachsen waren, der zur Natur dieses weissen Sports gehörte. Nie wieder Niederlagen! Es kam ja die Stunde, da Federer nicht mehr alle Spiele mit jener legendären Leichtigkeit gewann, hinter der viel harte Arbeit steckte, wie Heinz-Günthardt betont. «Ich habe ihn schwitzen sehen.»
Spannung kommt in «Twelve Final Days» selten auf – höchstens in Form der Frage, ob Nadal es nach London schaffe und Federer die Tränen zurückzuhalten, wenn der letzte Punkt gespielt sein wird. «Die Leute erwarten es ja fast von mir, dass ich weine.»
Lockerheit im Locker-Room
Es wird stimmen, dass der Federer und sein Clan sich zunächst nicht mit dem Gedanken trugen, aus dem für Freunde und Familie gedrehten Footage einen Film zu fertigen. Der im Genre geübte Oscar-Preisträger Asif Kapadia («Senna», «Maradone») hat es artig mit Archiv-Szenen angereichert, auf dass daraus ein Denkmal werde, das sich (so oder ähnlich) auch andere Weltstars des Sports schon haben errichten lassen.
Weh tut das natürlich niemandem. Aber warum nicht einfach wehmütig sein dürfen? Heisst: Tränchenverdrückalarm im Viertelstundentakt. «Twelve Final Days» zeigt uns aber auch den Federer, zu dessen Fähigkeiten es gehört, in schweren Stunden mühelos jene Leichtigkeit zu finden, die ihn von allen anderen abhebt.
Da geht er hin, und alle heulen Rotz und Wasser: die mutmasslichen Millionen vor den Bildschirmen zuhause, die Augenzeugen in London, sogar Nadal im Locker-Room. Fragt ihn Federer, plötzlich gefasst: «Wie die wohl geweint hätten, wenn wir gewonnen hätten?» Homerisches Gelächter.
«Twelve Final Days» ist im Streaming-Angebot von Amazon Prime Video.
Noch Fragen? Heinz Günthardt über Federers Vermächtnis
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Kaum einer war so nah dran an der Karriere von Roger Federer wie der frühere SRF-Tennisexperte, der selber Profi war. Was bleibt von King Roger – und wer ist sein Thronfolger? Ein Telefongespräch.
SRF: Vorhand aufs Tennisherz: Wie sehr vermissen Sie Roger Federer?
Heinz Günthardt: Auch andere spielen gutes Tennis, aber keiner ist so elegant wie Federer. Ich habe nie jemandem lieber zugeschaut. Federer hinterlässt eine grosse Lücke – keine Frage.
Von der Bildfläche verschwunden ist Federer nach seinem Rücktritt nicht. Was sagt es über die Schweiz, dass man es gar nicht so gerne sieht, wenn er mit Elton John auf der Bühne steht – oder mit Coldplay ein Ständchen gibt?
Einzuordnen, was ein Weltstar ist, ist nicht ganz einfach. Federer ist ein Weltstar. Die ganze Welt kennt ihn – und selbst andere Stars umgeben sich gern mit ihm.
Rückblickend: Ist Federer den berühmten Tick zu spät zurückgetreten?
Man weiss nie, wann man den letzten Match gewinnt. Viele Spieler haben zu früh aufgehört – Björn Borg zum Beispiel. Ich finde: Wenn einer viel gewonnen hat, hat er sich das Recht erworben, so lange zu spielen, wie er will.
Federer verlor sein letztes Spiel ausgerechnet in Wimbledon – den letzten Satz mit 0:6...
Das weiss doch keiner mehr! Man sagt immer, man solle auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufhören. Also nach dem ersten Wimbledon-Sieg? Auch Federer konnte sich nicht sicher sein, dass er so ein Turnier noch einmal gewinnt.
«Wir haben ihn nie schwitzen sehen», schrieb die Ex-Tennisspielerin Andrea Petković über Federer. Ist es diese Leichtigkeit, die ihn vom Rest der Tenniswelt abhob?
Ich habe ihn schwitzen sehen! Bei Federer sah zwar alles leicht aus. Das heisst aber nicht, dass er nicht hart dafür arbeitete. In seiner Eleganz liegt das Geheimnis seiner Popularität.
Länger die Nummer 1, mehr gewonnene Grand-Slam-Titel: Statistisch hat Novak Djokovic Roger Federer längst überholt. Wie halten Sie es mit der anhaltenden GOAT-Diskussion?
Sie ist gut für das Geschäft. Die Frage ist aber auch, was man wie bewertet. Nur die Grand-Slam-Siege? Nimmt man die Art dazu, wie einer spielte? Und wie ihn das Publikum liebte? Federer war der eleganteste Spieler aller Zeiten – das würden die wenigsten abstreiten.
Federer bleibt also der Schönheitspreis – und das ist kein Trostpreis?
(lacht) Federer hat in Paris gegen Franzosen gespielt und das Publikum war für ihn – das ist eigentlich unvorstellbar. Das hatte auch damit zu tun, wie er sich neben dem Platz gab. Dieses Gesamtpaket ist vermutlich das Beste, das es je gab.
Welchem Spieler schauen Sie heute am liebsten zu?
Es gibt keinen zweiten Roger. In Sachen Leichtigkeit kommt ihm Yannik Sinner am nächsten. Auch er braucht nur wenig Kraft, um den Ball zu beschleunigen. Das hat etwas von Federer.
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