Wie unterscheiden sich Dokus von Spielfilmen? Da sich die beiden Filmgattungen immer mehr annähern, verzichtet man in Nyon auf eine klare Abgrenzung. Seit 1995 nennt sich das grösste Filmfestival der Westschweiz daher «Visions du Réel», um die ganze Bandbreite des realitätsbezogenen Kinos abzubilden. Genau diesem gattungsübergreifenden Realismus hat sich Jia Zhang-Ke verschrieben.
Direkt neben der Chinesischen Mauer aufgewachsen, studierte Jia zunächst Malerei in Taiyuan. Als er Mitte der 90er-Jahre nach Peking übersiedelte, um die Filmakademie zu besuchen, hatte er bereits einen ersten Roman veröffentlicht. In der Hauptstadt rief der Vielbegabte sogleich eine Gruppe für Experimentalfilm ins Leben. Ohne zu ahnen, dass aus dieser die erste unabhängige Kino-Produktionsstätte des Landes hervorgehen sollte.
Ein Regie-Prophet, der im eigenen Land nichts gilt
Die Filme von Jia Zhang-Ke dienen einem Zweck: der authentischen Schilderung chinesischer Lebenswelten. Am liebsten beleuchtet der Meisterregisseur die wenig beachteten, semi-urbanen Zonen seines Heimatlandes. Er bildet damit die Kehrseite dessen ab, was das staatlich geförderte Kino auf die Leinwand zu bannen pflegt.
Seinen ersten Spielfilm drehte Jia mit extrem bescheidenen Mitteln in seinem unglamourösen Geburtsort – ohne Genehmigung und ohne Schauspielprofis. «Pickpocket» erzählt die Geschichte eines perspektivlosen Mannes, der ziellos durch die Strassen von Fenyang treibt. Die innere Unsicherheit versucht Xiao Wu hinter einer grossen Brille und betont coolem Auftreten zu verbergen. Doch sein matter Blick verrät, dass er für sich in dieser Gesellschaft keine Zukunft sieht.
Das einnehmende Porträt des Taschendiebs feierte 1998 auf der Berlinale Premiere und machte Jia dank zwei Preisen weltbekannt. In der Folge etablierte sich der Asiate in der Festivallandschaft: 2002 wetteiferte Jia erstmals in Cannes um die Goldene Palme. 2006 folgte in Venedig dann der Triumph: der Goldene Löwe für «Still Life». Doch trotz seines internationalen Erfolgs kennen den Undergroundfilmer im Zensur-beherrschten China nur die wenigsten.
Kindliche Vorfreude auf Europa
Wegen der Pandemie hat der Weltenbummler seine Heimat nun lange nicht mehr verlassen. «Nyon wird mein erstes Reiseziel nach vier Jahren sein», liess er verlauten. Daher sei er «aufgeregt wie ein Kind, das sich so fühlt, als würde es die Welt umarmen». Was aber auch daran liegen könnte, dass er wenig später wieder im internationalen Wettbewerb von Cannes antreten darf.
«Caught by the Tides» heisst Jias neustes Drama, in dem seine hübsche Gattin Zhao Tao die Hauptrolle spielt. Diese hat seit dem Jahr 2000 alle Spielfilme ihres Ehemanns bereichert. Zuletzt brillieren konnte sie in «Ash Is Purest White»: Als Gangsterbraut, durch deren Augen wir Chinas Entwicklung seit der Jahrtausendwende erleben.
Jia selbst sieht sich als Teil einer Generation, die stark vom Tian’anmen-Massaker des Jahres 1989 geprägt wurde. Bei diesem hatte das chinesische Militär Proteste der Bevölkerung brutal niedergeschlagen.
Seine Filme seien daher primär als Zeugnisse zu verstehen. Oder um es in Jias eigenen Worten auszudrücken: «Ich begebe mich nach Nyon, für ein Kino, das die Welt so zeigt, wie sie wirklich ist.»