«Ein Knie geht einsam durch die Welt / Es ist ein Knie, sonst nichts...» So dichtete einst Christian Morgenstern, der seine absurde Vision eines losgelösten, autonomen und automobilen Körperteils mit einem Hauch von Pazifismus unterfütterte: Das herumirrende Knie wird zum Stellvertreter für seinen ehemaligen Besitzer, einen erschossenen Soldaten.
Diese metonymische Form der Übertragung, die einen Teil für das Ganze stehen lässt, taucht in der absurden Literatur immer wieder auf, von Gogols «Die Nase» bis zu Hermann Harry Schmitz' «Mann mit dem verschluckten Auge». Ein verwandtes Motiv ist das vom mechanischen Gegenstand, der zum Leben erwacht und meist Unheil anrichtet, ist in der phantastischen Literatur ebenso etabliert: von E.T.A. Hoffmanns unheimlichen Automaten bis zu den mörderischen Fahrzeugen in Stephen Kings «Christine» und «Trucks» bzw. «Maximum Overdrive».
Auf beiden Traditionen gründet Quentin Dupieux' Film «Rubber», der 2010 in Locarno die Piazza platt machte. Protagonist des Films ist ein Autoreifen, der sich mitten in der amerikanischen Wüste spontan aufrappelt und einsam durch die Welt zu rollen beginnt. Bald entdeckt er seine zerstörerische Macht, ob er nun Kleintiere überfährt oder, mit der Kraft seiner mutmasslichen Psyche, Köpfe unliebsamer Menschen zum Platzen bringt, wie damals die bösen Telepathen in David Cronenbergs Frühwerk «Scanners».
Parodie auf Trashfilme - und auf die Postmoderne
Was Dupieux' Film sowohl von monströsen Vorbildern aus den Trivial-Horror-Küchen von Jack Arnold und Roger Corman als auch von Parodien wie «Attack of the Killer Tomatoes» abhebt, ist der selbstreferentielle Diskurs, in den er die Abenteuer des rabiaten Reifens einbettet.
Gleich zu Beginn nämlich übernimmt ein Sheriff die Rolle des Kommentators und Exegeten. Einer kleinen Schar touristischer Zuschauer erklärt er, dass das wüste Treiben des dämonischen Reifens nur ihretwegen stattfindet.
Entstehen Filme wirklich nur des Publikums wegen? Gäbe es keine Gewaltdarstellungen ohne den Voyeurismus der Kinogänger? Diese Fragen sind im Nachgang zum Massaker von Newtown und Obamas Beschluss, die Auswirkungen von Gewalt in Spielen und Filmen untersuchen zu lassen, wieder aktuell geworden.
Dupieux allerdings nimmt diese Zeitthemen nicht wirklich ernster als seinen hartgummigen Antihelden. Der Filmemacher amüsiert sich wohl ebenso sehr über debile Monsterfilme wie über exzessive Interpretationen postmoderner Spässe.
Love it or hate it
Ob man sich nun insgesamt über «Rubber» aufregt oder begeistert - es ist unbestreitbar, dass der Film einige ebenso originelle wie geniale Momente aufweist: etwa, wenn der Reifen dem Objekt seiner Begierde (Roxane «Sennentuntschi» Mesquida) in ein Motel folgt und sich erst mal aufs Bett legt, um fernzusehen.