Der helvetische Spielfilm hat ein Image-Problem: er gilt als bieder. Über die Ursache der Misere sind sich die Experten einig: Die Drehbücher taugen nichts. Warum? Die Wohlstandsoase Schweiz biete den Autoren kaum Inspiration für die grossen Dramen, sagen die einen. Das Fördersystem favorisiere harmlose Stoffe, weil sie nur diese für massentauglich halten, argumentieren die anderen. So oder so – das Ergebnis bleibt gleich: Filme ohne Ecken und Kanten.
«Dora» oder die neue Brisanz des CH-Kinos
Doch es geht zum Glück auch anders. Nach Jahren der Anpassung und des Jammerns nun der grosse Befreiungsschlag. Plötzlich scheint gleich ein ganzes Kreativ-Heer mit eisernem Willen für seine Ideen kämpfen zu wollen. An vorderster Front: Regisseurin Stina Werenfels mit «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern». Grossartiges Hochrisiko-Kino, frei nach Lukas Bärfuss‘ Theaterstück.
Ein unerschrockenes 18-jähriges Mädchen mit geistiger Behinderung spürt den Frühling. Von der aufkeimenden Lust getrieben, folgt sie einem Fremden. Der begreift ihr Begehren rasch und nutzt seine Machtposition schamlos aus. Zu radikal fanden der Bund und die Zürcher Filmstiftung. Nur das SRF glaubte an den Stoff und ermöglichte die Produktion.
«Chrieg» oder die erfrischende Lust am Konflikt
«Dora» ist längst nicht der einzige Film, der es in den letzten Monaten wagte, die Zuschauer mit kniffligen moralischen Fragen zu konfrontieren. In «Unter der Haut», dem Regiedebüt von Claudia Lorenz, entdeckt eine Frau das geheime Liebesleben ihres Mannes. Der dreifache Vater entpuppt sich nach 18 Ehejahren als schwul – zum grossen Entsetzen seiner Gattin. Hauptdarstellerin Ursina Lardi ist für ihre starke Performance zu Recht für den Schweizer Filmpreis nominiert worden.
Gleich fünf Nominierungen hat sich ein anderes Erstlingswerk erkämpft: «Chrieg» von Simon Jaquemet. Die verstörende Jugend-Gewaltstudie lockt das Publikum mit roher Energie aus seiner Komfortzone heraus. Der konfliktfreudige Film beweist: Wer richtig sucht, findet auch in der ach so braven Schweiz Stoff für grosse Dramen.
Daher kann «Chrieg» gar als Sinnbild des Spielfilmjahres 2014 verstanden werden: Die einheimischen Filmschaffenden haben dem Angsthasen-Kino der letzten Jahre den Krieg erklärt.