Mit seiner ungebrochenen Anziehungskraft gelang dem Schauspieler Shah Rukh Khan für Bollywood, was Tom Cruise zeitgleich für Hollywood geschafft hatte: Er machte den Gang ins Kino nach der Pandemie wieder attraktiv.
Das Filmfestival Locarno zeichnet «King Kahn», wie er in Indien genannt wird, nun mit dem «Pardo alla Carriera» aus.
Ende 2022 hätte man meinen können, Bollywood sei am Ende. Nicht zuletzt die Pandemie war es, die Mumbais Traumfabrik einen Dämpfer versetzt hatte: Radikale Produktionsstopps hatten das Geschäft lahmgelegt. Das Zielpublikum war derweil im Lockdown empfänglich geworden für die Unterhaltungsmodelle der weltweiten Konkurrenz.
Plötzlich nicht mehr beliebt?
Auch der anhaltende Druck der konservativen hinduistischen Kräfte mit ihren Aufrufen, Bollywood zu boykottieren – weil zu freizügig – verstärkte sich wieder.
Kostspielige Flops nagten 2022 am Image einer Branche, die mit ihrem Hang zur Opulenz, zum Glamour und zur Überlänge sowie mit ihrem immensen Star-Kult stets auf treue Fans und begeisterte Reaktionen gesetzt hatte.
Die sinkende Publikumsgunst bedeutete nicht nur finanzielle Schäden – sie traf ins Mark einer Industrie, zu deren Selbstverständnis es gehörte, populär und beliebt zu sein.
Die Rettung: Shah Rukh Khan
2023 war das Jahr der Erleichterung: Der Publikumsliebling Shah Rukh Khan war nach einer mehrjährigen Pause mit gleich drei Spielfilmen zurück. Mit ihm war auch das Kinopublikum wieder an Bord.
Um die aktuellen Veränderungen in der Hindi-Filmfabrik zu verstehen, hilft ein Blick auf die drei Shah-Rukh-Khan-Filme von 2023. Es fällt auf: Eine Romanze ist nicht darunter. «Pathaan» ist ein Spionage-Thriller, «Jawan» ein düsterer Krimi, «Dunki» eine Komödie.
Dass sich der charismatische Shah Rukh Khan zunehmend mit Genres fernab vom Liebesfilm beschäftigt, mit dem er gross wurde, das hat nicht nur mit seinem Alter, er ist 58 Jahre alt, zu tun. Vielmehr ist es auf einen tiefgreifenden Wandel in der Bollywood-Filmindustrie zurückzuführen.
Bollywood-Filme sind keine Familienfeiern mehr
Was sich schon vor der Pandemie abzeichnete: Die Blütezeit der epischen, sogenannten Marsala-Filme ist vorbei. Diese oft dreistündigen Schmachtfetzen, in denen Pathos, Rührseligkeit, Humor und Tanznummern wie die Gewürzzutaten für ein familientaugliches Nachmittagsspektakel im Kinosaal vermengt werden, verlieren rapide an Bedeutung.
Bollywood beherrscht diese Kunst zwar noch, bewegt sich aber mit solchen Inhalten zunehmend auf die Streaming-Giganten zu. Wobei Disney Plus, Netflix und Konsorten die ausführenden Produktionsfirmen gerne dazu anregen, ihre ausufernden Handlungen in Serienfolgen von gewohnter Länge zu unterteilen – damit sie dem weltweiten Konsumverhalten entsprechen.
Das Spektakel geht weiter
Für Bollywood ist diese Strategie freilich eine Abkehr von den Wurzeln: Hindi-Filme sind für grosse Kinosäle gedacht, für ein mitfieberndes Parkett mit mehreren Generationen im Saal und Lunchpaketen auf dem Schoss, und erst in der zweiten Instanz für den Heimkonsum.
Bollywood denkt daher nicht daran, sich von den Hindi-Kinoleinwänden abzuwenden, auch nicht im Zeitalter der Multiplexe. Weil die Romanzen aber tendenziell ins Streaming abwandern, entstehen für die Säle zunehmend Blockbuster nach Genre-Mustern: Fantasy, Science-Fiction, jugendfreier Horror, Superheldinnen und Superhelden.
Druck aus dem Osten von «Tollywood»
Zudem setzt Bollywood stärker denn je auf harte, männlich-muskulöse Action – ein Trend, an dem auch Shah Rukh Khan nicht vorbeikommt.
Aber auch an dieser Front verspürt Bollywood Druck: Die zurzeit erfolgreichsten indischen Action-Kassenschlager kommen vielfach gar nicht mehr aus Mumbai, sondern aus dem östlicher gelegenen indischen Bundesstaat Telangana.
Auch diese Industrie hat einen Namen: Tollywood.
Die beiden monumentalen «Baahubali»-Epen etwa, der enorm grosszügig budgetierte Action-Kracher «RRR» sowie der unlängst gestartete Science-Fiction-Monumentalfilm «Kalki 2898 AD» sind keine Bollywood-Werke. Auch wenn das im Westen bisweilen übersehen wird.
Neue Vermarktungsstrategien
Tollywood spezialisiert sich auf sogenannte Pan-India-Filme: Diese zielen darauf ab, die unterschiedlichen Sprachregionen und Ethnien Indiens gleichermassen anzusprechen – mit Synchronfassungen in mehreren indischen Sprachen. Vor allem aber: Sie werden auch weltweit vermarktet – während Bollywood nach wie vor vieles für den lokalen Markt herstellt.
Das Verhältnis zwischen Bollywood und Tollywood beruht nicht auf harter Konkurrenz, zumindest nicht auf offener. Zwischen den beiden Metropolen besteht ein Austausch von Fachkräften, Talenten und Stars. Zukünftige Bollywood-Tollywood-Koproduktionen könnten sich unter Umständen beidseitig lohnen.
Aufbruch nach Westen
Ein Bereich, in dem Bollywood auf jeden Fall von Tollywood lernen könnte, ist – wie angedeutet – die Vermarktung seiner Erzeugnisse in der westlichen Welt. Traditionell richtet sich Bollywood immer noch an die indische Bevölkerung und an die indische Diaspora, sowie an benachbarte Länder im asiatischen Raum.
Wobei: Vor rund zwanzig Jahren hatte Bollywood eine Öffnung nach dem Westen ins Auge gefasst. Filme wie «Monsoon Weding» (2002), «Lagaan» (2002) und «Devdas» (2003, mit Shah Rukh Khan) verzeichneten auch in der Schweiz stolze Publikumszahlen. Doch dieser Trend verflog so schnell, wie er gekommen war.
Erneute Versuche der Bollywood-Expansion?
Jetzt könnte ein internationaler Expansionskurs wieder interessant werden. Denn Bollywood-Filme gleichen sich in ihren Inhalten und Erzählweisen immer mehr an westliche Modelle an, und umgekehrt hat sich auch das westliche Publikum spätestens seit den «Avengers» an epische Filme mit über zwei Stunden Spieldauer gewöhnt.
Ein weiterer wichtiger Faktor: Ältere Bollywood-Filme sind mittlerweile ohne grossen Aufwand in westlichen Streaming-Angeboten abrufbar. Dies fördert unweigerlich die Sensibilität und das Verständnis eines neuen Publikums für die künstlerischen Eigenheiten dieser Produktionen.
«King Kahn» ist gefragt
Sollte Bollywood tatsächlich expandieren wollen, dann spielt eine Person dabei eine Schlüsselrolle: Shah Rukh Khan, wie könnte es anders sein.
Denn ihn kennt man im Westen, zumindest in Europa. Von seinen Filmen existieren deutsche Synchronfassungen. Dreimal war er an der Berlinale zu Gast – «Don 2» (2011), mit Shah Rukh Khan in der Hauptrolle, enthielt gar eine rasante Verfolgungsjagd durch die deutsche Bundeshauptstadt. Deutschland hatte den Film mitproduziert.
Gerade Koproduktionen wie diese dürften in den nächsten Jahren für Bollywood wieder wichtiger werden. Gut möglich also, dass «King Kahn» in Locarno Autogramme gibt, damit danach auch wieder Verträge unterschrieben werden können.