Der Comicverlag Marvel hat rechtliche Schritte gegen einige seiner Zeichner oder deren Erben eingeleitet. Filmredaktor und Comicexperte Enno Reins erläutert die Hintergründe.
Worum geht es in diesem Rechtsstreit? Es geht um die Urheberrechte an Superheldenfiguren wie Spider-Man, Dr. Strange, Iron Man, Thor, Black Widow und Loki, an deren Entstehung die Künstler massgeblich mitwirkten. Marvel Entertainment, das zum Disney-Konzern gehört, reagierte auf mehrere Klagen, die die Familien der Zeichner eingereicht hatten und die Urheberrechte der Figuren einforderten.
Das sieht Marvel ganz anders: Die Künstler besässen keine Rechte an den Figuren, weil die Werke Auftragsarbeiten gewesen seien.
Wenn Marvel verliert, wäre das das Ende der Marvel-Filme? Eine Niederlage vor Gericht wäre nicht das Ende des Marvel Cinematic Universe. Superheldenfilme und -serien werden auch künftig produziert. Aber der Konzern müsste die Erben mit Millionenbeträgen an den Gewinnen beteiligen.
Allein die sieben Spider-Man-Filme von 2002 bis heute haben beispielsweise über 6,3 Milliarden Dollar weltweit eingespielt, die drei Iron Man-Filme über 2,3 Milliarden. Dazu kommen noch Einnahmen aus Comicverkäufen, Merchandising, Themenpark-Attraktionen und Serien des Streaming-Dienstes Disney+, wo Serien wie «What if» und «WandaVision» laufen.
Was macht den Fall so schwierig? Gene Colan, Steve Ditko, Don Heck, Larry Lieber und Don Rico arbeiteten in den 1960ern und 1970ern für den Marvel Verlag. In dieser Zeit entstand das Superheldenuniversum, das heute aus den Comics und den Verfilmungen bekannt ist.
In dem Verlag wurde in den Anfangsjahren nach der sogenannten «Marvel-Method» gearbeitet. Anders als heute, wo ein Autor in einem Skript dem Zeichner erklärt, was auf jeder einzelnen Seite des Comics passiert und was gesprochen wird, bekamen die Künstler damals nur eine kurze Geschichtsidee, die sie frei gestalten konnten. Auch neue Charaktere kamen nur als Skizze zu ihnen.
Dadurch hatten die Zeichner einen grossen Anteil an der Entstehung und Entwicklung einzelner Figuren. Beispiel Spider-Man: Autor Stan Lee hatte die Idee zu einem jugendlichen Helden, der von einer Spinne gebissen wird und Kräfte entwickelt.
Das Kostüm, den Netzsprüher am Handgelenk und den visuellen Stil entwickelte Zeichner Steve Ditko, der den Wandkrabbler die ersten vier Jahre zeichnete.
Kann man abschätzen, wer gewinnt: Marvel oder die Zeichner? Bei ähnlichen Fällen hat bisher immer Marvel gewonnen. 2009 forderten die Kinder von Zeichner Jack Kirby die Rechte an Figuren wie den X-Men, Hulk und Thor zurück. 2013 gewann Marvel vor Gericht. Als die Erben drohten vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, kam es zu einem Vergleich in Millionenhöhe.
Wie im aktuellen Fall argumentierte Marvel, dass es sich um Auftragsarbeiten gehandelt habe und deshalb die Rechte beim Konzern liegen würden.
Drohen noch weitere Prozesse? Immer wieder kämpfen Comic-Autoren und Zeichner um ihre Rechte. Auch beim zweiten grossen US-Comicverlag DC. Die Erfinder von Superman, Jerry Siegel und Joe Shuster, kämpften ab 1946 mehrfach um die Urheberrechte ihrer Figur. Ohne nennenswerten Erfolg.
Erst 1978, als der erste Superman-Film herauskam und es sich herumsprach, dass die beiden pleite waren, zahlte der Verlag eine jährliche Rente von erst 20‘000, später 30’000 Dollar. Die Rechte blieben bei DC. 2004 und 2010 folgten Prozesse zwischen dem Verlag und den Erben von Siegel und Shuster, die DC jeweils gewann.
Bis heute kritisieren amerikanische Comicautoren und Zeichner die mangelnde finanzielle Entschädigung. Deshalb sind weitere Prozesse, in denen es um Gewinnbeteiligung geht, nicht ausgeschlossen.