Er wollte das Kind in uns allen wecken: «Jeder von uns war einmal ein Kind», sagte Walt Disney in einem Dokumentarfilm der 1930er-Jahre.
«Wenn wir einen neuen Film planen, denken wir nicht an Erwachsene und Kinder, sondern an die unverdorbene Stelle in allen von uns, die die Welt uns vielleicht hat vergessen lassen und die wir den Menschen mit unseren Filmen wieder in Erinnerung rufen möchten.»
Fasziniert von Versailles
Sein eigenes inneres Kind entdeckte Disney, als er selbst noch fast eines war. Mit 17 Jahren kam er kurz nach dem Ersten Weltkrieg als Fahrer für das Rote Kreuz zum ersten Mal nach Frankreich. Er war in der Nähe von Versailles stationiert. Was er da sah, beeindruckte ihn zutiefst.
In seiner Freizeit sei Walt Disney herumgereist, sagt Wolf Burchard, und habe so viele Schlösser, Intérieurs und Gärten wie möglich gezeichnet. Wolf Burchard ist der Kurator der Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum, die dem Einfluss nachgeht, den die Kunst des alten Europa und besonders die des französischen Rokoko auf das Werk von Walt Disney hatte.
Ein Spiegelsaal und die Spätfolgen
1935 genoss Disney bereits den Ruf eines Filmpioniers und kehrte nach Frankreich zurück. Er filmte sich selbst im Spiegelsaal von Versailles. Spuren dieser Eindrücke finden sich noch 60 Jahre später in der Ballszene des Disney-Hits «Die Schöne und das Biest».
«Wir haben diverse architektonische Zeichnungen, durch die sich ein roter Faden direkt zu dieser ursprünglichen Idee zurückverfolgen lässt», sagt Wolf Burchard. Auf weiteren Reisen, auch nach England, Deutschland und Italien, kaufte Disney über 300 illustrierte Bücher, die zum Kern der umfangreichen Arbeitsbibliothek der Disney-Studios wurden.
Singende Teekrüge, tanzende Kerzenhalter
Ausserdem waren da die Nippes. Und das Mobiliar und die Kandelaber und die Porzellanfiguren aus dem 18. Jahrhundert. Disneys Sammlertätigkeit hielt sich zwar in Grenzen. Doch das Metropolitan Museum zeigt eine Fülle solchen Zierats.
Und tatsächlich: Diese «Schöner-Wohnen»-Requisiten sind so fantasiereich und fein gearbeitet wie die singenden Teekrüge und tanzenden Kerzenhalter in den bewegten Bildern von Walt Disney. Das Schloss von Cinderellas Traumprinz, die Herrlichkeiten, die das wachgeküsste Schneewittchen erwarten: Sie alle wären ohne Disneys europäische Inspirationen nicht denkbar.
Kein Wunder gleicht ein Turm des Dornröschenschlosses im kalifornischen Disneyland verblüffend einer türkis-rosa Vase des 17. Jahrhunderts aus der berühmten Porzellanfabrik in Sèvres. Oder umgekehrt.
Disney und die Gretchenfrage
«Ist Disney Kunst?», fragte das New York Times Magazine einmal. Damals, Ende der 1930er-Jahre, lautete die Antwort darauf einstimmig: ja. Und heute? «Es ist emotionale Kunst», sagt Wolf Burchard.
Dieselbe Frage werde immer wieder auch in Bezug auf die dekorativen Künste gestellt: «Wenn ein Museum wie das Metropolitan Museum Porzellan, Kleider und Möbel sammelt und damit zur Kunst erklärt, dann sollte dasselbe für Disneys Werk gelten.»
Dem werden wohl alle zustimmen, die beim Anblick der weinenden Zwerge um Schneewittchens gläsernen Sarg mindestens einmal in Tränen ausgebrochen sind.