Barbara Bleisch: Susanne Schmetkamp, Ihr Forschungsgebiet lautet «Philosophie und Film». Sind Sie eine Exotin?
Susanne Schmetkamp: In gewisser Weise schon. Zwar gab es seit Beginn der Filmproduktion auch Filmphilosophen, die sich zum Beispiel dafür interessieren, was dieses Medium auszeichnet oder welche Wirkung es auf menschliche Wahrnehmung hat. Ich will über solche filmphilosophischen Debatten hinaus wissen, was wir dank Filmen lernen können – etwa an neuen Erkenntnissen und neuen Gefühlen oder auch an innovativen Antworten auf ethische Fragestellungen. Forschungsthemen wie diese – die übrigens auch mit Bezug auf Literatur und andere Kunstformen gestellt werden – sind tatsächlich noch relativ neu, aber sehr im Kommen.
Statt Philosophie zu studieren, können wir also einfach ins Kino gehen oder uns Fernsehserien ankucken?
Bewegte Bilder ersetzen das Studium von Texten nicht. Aber ich meine tatsächlich, dass man von – guten! – Filmen sowie den so genannten «Quality Series», zu denen beispielsweise «Mad Men», «The Sopranos» oder «Breaking Bad» gehören, philosophisch eine Menge lernen und gewisse Ideen der Ethik sogar besser verstehen kann, als wenn man Argumente nur lesen würde. Nehmen wir zum Beispiel die amerikanische Serie «Mad Men»: Sie bietet hervorragendes Material um zu verstehen, was menschliche Integrität bedeutet. Und unser Verstehen können wir eben durch das Zuschauen ganz direkt erfahren, ohne dass wir irgendwelche Sätze interpretieren müssen.
Don Draper als integrer Mensch
Wie bitte? In «Mad Men» trinken die Herren nonstop Whiskey, rauchen und betrügen ihre Gattinnen, während die Damen aufs Übelste intrigieren. Wieso sollen wir beim Sehen der Serie etwas über Integrität lernen?
Klar, für diese Exzesse ist die Serie unter anderem berühmt! Ich behaupte aber tatsächlich, dass man gerade anhand der Hauptfigur Don Draper sehr schön zeigen kann, was es heisst, eine integre Person sein zu wollen.
Was heisst denn für Sie «Integrität»?
Unter «Integrität» sollte man nicht einfach sture Enthaltsamkeit oder rigide Moraltreue verstehen, sondern den echten Versuch, ein Leben zu führen, in dem man sich selbst und seinen eigenen Werten treu zu bleiben versucht. Dieses ewige Streben ist, wenn es ernsthaft betrieben wird, eine gewaltige Leistung – das wusste auch Goethe, der seinen Faust erretten lässt mit den Worten: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.» Integrität heisst insofern immer auch, sich selber als eine Person zu verstehen, die eine Geschichte hat, während der man immer mehr an Kontur gewinnt. Diese Geschichte kann zwar Brüche haben, sie behält jedoch stets einen roten Faden. Draper selber bringt dafür am Ende der ersten Staffel der Serie den Vergleich mit einem Dia-Projektor namens «Carousel»: In unserem Leben versuchen wir genauso wie dieses Gerät, das über seine Projektion von Bildern eine Nostalgie entstehen lässt, eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Eine Kohärenz zwischen dem, was wir waren und dem, was wir werden könnten. Das Leben ist also ein bisschen wie Karussellfahren. Vom Karussell heruntersteigen können wir erst, wenn wir sterben.
Wir sollten uns also Don Draper als Vorbild nehmen?
Natürlich nicht unbedingt, wenn es um seinen Konsum von Alkohol, Tabak oder um seine Affären geht (wobei der lässige Umgang mit alldem in Zeiten vor der Verbotsgesellschaft wie der unseren uns Zuschauer sicher auch fasziniert). Aber es wäre eindimensional, die Figur Drapers auf seine Eskapaden oder «Fehltritte» zu reduzieren. Draper ist ganz im Gegenteil vielschichtig und gerade darin sehr menschlich, weil er immer wieder mit sich, seinen Werten, aber auch seinen Schwächen und Sehnsüchten ringt. Anders als etwa die Figur Pete Campell ist er nicht korrupt, intrigant oder opportunistisch, und anders als für seinen Kollegen Roger Sterling ist Sex für ihn kein Machtspiel. Vielmehr interessiert er sich für sein Business und will dieses gut machen; und er interessiert sich für starke Frauen und für deren Ideen, nicht allein für deren Körper.
Don Draper gibt vor, eine andere Person zu sein als er ist, lebt also eine Lebenslüge. Das scheint nicht besonders integer zu sein...
Das stimmt, aber das macht die Sache umso interessanter! Das Ringen um Integrität ist letztlich auch immer ein Ringen um Identität – darum, eine Person zu sein, die für einen selber wie für die anderen verlässlich ist und in ihrem Handeln nachvollziehbar bleibt. Drapers doppelte Identität und das Verwirrspiel, das sich daraus ergibt, machen dieses Streben nach Integrität – und das dauernde Scheitern – für uns als Zuschauer noch reizvoller, und kaum ein philosophischer Text könnte das so gut und reichhaltig erfahrbar machen wie diese Serie. Übrigens wäre das Ganze auch als Spielfilm nicht so facettenreich. Episch angelegte Fernsehserien wie die «Qualitätsserien» können der Entwicklung einer Person über lange Zeit hinweg besser Rechnung tragen, weil auch der Zuschauer seine Geschichte mit der Serie hat.
«It’s toasted, it’s okay!»
Eine integre Person kann sich also auch besser akzeptieren?
Ja, ich denke schon. Draper wirbt tatsächlich immer wieder für eine gesunde Portion an «Eigentoleranz». Das kommt beispielsweise sehr schön zum Ausdruck, als der Werber Zigaretten verkaufen will mit dem Slogan «It’s toasted».
Die Schädlichkeit der Zigaretten wird nicht wegdiskutiert. Vielmehr lenkt Draper geschickt auf anderes, als würde er sagen wollen: «Rauchen ist ok!» Letztlich jedoch will er sagen: «Nimm dich an, denn du bist ok, auch mit deiner Schwäche, dass du rauchen willst.» Auch darin besteht menschliches Glück: In der Selbstakzeptanz als der, der man ist.