Was in den 1990ern Dr. Sommer war, war in den 80er-Jahren Dr. Ruth Westheimer. Über das aufregende Leben der wohl berühmtesten Sextherapeutin gibt es nun einen Dokumentarfilm. «Auf die Grösse kommt es nicht an», lautet das Motto der 1,40 Meter kleinen Frau. Wir trafen die quirlige 91-Jährige in Zürich zum Gespräch.
SRF: Welche Rolle spielt das Schamgefühl innerhalb der Intimität zweier Menschen?
Ruth Westheimer: Scham ist ein interessantes Thema. Ich glaube, dass ich eine gute Sexualtherapeutin geworden bin, weil ich jüdisch bin. In der jüdischen Tradition war Sex nie eine Sünde. Es war immer eine Obligation zwischen Mann und Frau. Natürlich nur, wenn diese verheiratet sind! Nicht zwischen Wildfremden auf der Strasse.
Es steht etwa geschrieben: Wenn ein Mann seine Frau zum Orgasmus bringt, bevor er ejakuliert, dann wird sie einen Sohn gebären. Ich weiss nicht, ob das wahr ist. Ich habe zumindest keinen wissenschaftlichen Beweis dafür.
Kann Intimität auch zwischen mehr als zwei Menschen entstehen?
Ich weiss, ihr jungen Menschen denkt, dass man gleich zu zehnt zusammen ins Bett kann. In meinem Kopf geht das nicht.
Ich sage nicht, dass es nicht in der Fantasie eine Rolle spielen kann. Aber ich bin altmodisch. Ich denke, dass wirkliche Intimität, einander zu verstehen, nur zwischen zwei Menschen entstehen kann.
Die zwei Menschen können aber zwei Männer oder zwei Frauen sein. Es müssen nicht zwingend ein Mann und eine Frau sein.
Sie waren selbst drei Mal verheiratet.
Gott sei Dank! Zwei waren wunderbare Liebesaffären, die ich legalisiert habe und der Dritte war der Richtige. Das war der Mann meines Lebens. Der ist leider schon vor über 20 Jahren verstorben. Jede Person sollte einen Menschen finden, zu dem sie sagen kann: Das ist der Richtige. Aber es gibt noch mehr, was die Menschen heute lernen müssen.
Was zum Beispiel?
Worüber ich jetzt am meisten traurig bin: Allein zu sein. Was man machen muss, damit man einen Partner findet. Und wenn man ihn findet, dass man ihn behält. Anstatt zu denken: Da gibt es bestimmt noch eine Bessere oder einen Besseren.
Und was muss man da tun?
An einer Beziehung arbeiten. Der Beziehung Zeit geben. Sich an der Beziehung erfreuen. Wenn du jemanden hast, der auf dich am Abend wartet, dann freu dich darüber!
Nimm das nicht als selbstverständlich hin. Man muss daran arbeiten, dass man den Anderen versteht und ihm trotzdem Freiheiten lässt.
Hat sich die Intimität zwischen Menschen, seit dem Sie Sexualtherapeutin sind, stark verändert?
Das Schlimme ist, dass ihr jungen Leute heute so beschäftigt seid, vor allem mit dem Smartphone. Auf der Strasse wird man fast überrannt, weil niemand mehr aufpasst.
Besonders die Jüngeren verlieren allmählich die Fähigkeit, eine richtige Konversation zu führen. Alle hängen nur noch am Handy. Dadurch geht die Intimität im Bett verloren.
Die jungen Menschen vergessen, dass der Orgasmus nicht nur auf körperlicher Aktivität basiert. Sexualität ist immer auch ein Akt der Intimität.
Denken wir zurück an die 80er-Jahre als Aids aufkam. Warum haben Sie sich so stark für die Betroffenen engagiert?
Im Film sagt jemand, wie traurig es ist, dass die Aids-Kranken alleine sterben. Weil die Familien Angst haben, sich anzustecken. Das hat mich damals sehr berührt. Weil ich ein Waisenkind war, das ohne Eltern aufwachsen musste.
Wir wissen nicht, warum es Homosexuelle gibt. Warum manche Männer von Männern angezogen sind und manche Frauen von Frauen. Was ich aber weiss ist, dass jeder Mensch auf der Welt Respekt verdient.
Das habe ich damals laut gesagt, als fast niemand über Aids sprechen wollte. Und jetzt bin ich wieder besorgt, weil die Angst vor Aids schwindet. Geht es so weiter, erwartet uns eine neue Welle von Geschlechtskrankheiten.
Das Interview führte Nino Gadient.