«Höhenfeuer» verknüpfte 1985 den alten (Deutsch-) Schweizerfilm mit dem neuen, die traditionelle Welt der Gotthelf-Verfilmungen mit der Gegenwart und den Lebensunsicherheiten der 1980er-Jahre. Pio Corradi war der Kameramann von Fredi M. Murer und damit verantwortlich für die Bildgestaltung dieses radikalen, poetischen Alpen-Inzest-Dramas.
Für «Höhenfeuer» spannten der Innerschweizer «Bergler» Fredi M. Murer und der Baselbieter «Secondo» – oder eigentlich «Terzio» – Pio Corradi zusammen. Dass sie einen Meilenstein schufen, war ihnen damals kaum bewusst.
Der Film sollte einfach anders sein als das traditionelle Kino, lebensechter. Rückblickend könnte man auch behaupten: Dokumentarischer.
Über die Fotografie zum Film gelangt
Pio Corradis Grossvater war aus Italien ins Baselbieter Dorf Buckten gekommen, ein Steinhauer, dessen Söhne später sein Baugeschäft weiterführten. Der im Mai 1940 geborene Pio besuchte die Basler Kunstgewerbeschule und machte eine Fotografenausbildung.
Ab 1964 holte er sich als Assistent von Nicolas Gessner und anderen in Zürich das Rüstzeug zum Kameramann. Ganz ähnlich wie der ebenfalls 1940 geborene Fredi M. Murer, der ebenfalls über Kunstgewerbeschule und Fotografenlehre zum Film gefunden hatte.
Zwischen unsichtbar und sichtbar
Pio Corradi war ein Künstler, der sich als Handwerker verstand. Er redete über seine Arbeit nüchtern und ohne Verklärung. Gerade dadurch fand er zu einer Präzision des Ausdruckes und des Bildes.
Was man nicht sieht, kann man nicht zeigen. Dafür kann man zeigen, wenn man nichts sieht. Corradis Kamera hat das immer wieder vorgemacht.
Ob mit dem Übergang von dunkel zu gerade hell genug, oder mit Bildern von Wolken oder Nebeln, die schliesslich den Blick freigeben: Erst besteht eine Ahnung, dann entsteht das Bild. Dieses geht einem nicht mehr aus dem Kopf.
Kunst für die Leinwand übersetzt
Pio Corradi hat über mehr als vierzig Jahre hinweg rund hundert Filme betreut, Dokumentar- und Spielfilme. Immer wieder waren es Künstlerporträts, etwa über Ludwig Hohl, Varlin oder Gerhard Meier. Corradi hat auch künstlerische Prozesse ins Bild gesetzt, am schönsten sicher mit «Der Lauf der Dinge» von Peter Fischli und David Weiss von 1987.
«Der Lauf der Dinge» ist ein Film, der einem mechanischen Ablauf folgt, einem Programm, einer Kettenreaktion von Dingen, die sich anstossen, abstossen, umstossen, rollen, fallen. Bilder, die zeigen, was kommt, wo es hingeht und was gleich als nächstes kommen könnte.
Eine Ahnung von dem, was noch kommt
Das war die grosse Kunst des Pio Corradi: Er konnte mit fotografischer Präzision Dinge und Menschen so ins Bild setzen, dass man eine Ahnung davon bekam, was da noch alles auftauchen könnte oder würde.
Damit war Pio Corradi als Kameramann auch immer ein Co-Künstler, ein Mitschöpfer, ein Diskussionspartner und Realitätsprüfer für filmische Träume. Wenn er ahnte, wo seine Regisseurin oder sein Regisseur hin wollte, konnte er ihnen dabei helfen, den Weg dahin zu finden.