(Salam Aleikum) ٱلسَّلَامُ عَلَيْكُمْ, Dobar dan, ditën e mirë, (kemeyi wī'ilikumi) ከመይ ዊዕልኩም, buon giorno, bom dia, bonne nuit, grüezi Schwiiz!
Ich begrüsse Sie – euch recht herzlich, wenn auch etwas widerwillig, an diesem heutigen Tag – denn zugegebenermassen gehören 1. August-Reden nicht zu meinem Lieblingsessen. Käse. Es ist tatsächlich so, dass man hier viel guten Käse isst. Hopp Schwiiz.
Es ist – es muss mir wohl – eine grosse Ehre sein, zu Ihnen – euch zu sprechen! Als Migrantin bin ich dafür, wie es sich gehört, natürlich ausserordentlich dankbar. Gleichzeitig bin ich aber auch ein wenig misstrauisch. Ist das am Ende vielleicht einfach eine Form des eben meistens auf Migrantinnen und Migranten abgeschobenen Putzjobs?
Putzen, so denkt man, ist in der Schweiz eine gänzlich überflüssige Aufgabe – denn es ist ja so schon so schön sauber hier. Wie oft sieht man Heldinnen des Alltags einen Papierfötzel von der Strasse aufheben und in den Kübel rühren? Wie häufig hört man den einen Schweizer den anderen im Tram zu Ordnung und Anstand ermahnen?
Nicht einmal die Berge sind günstig hier!
Die Sauberkeit ist einer der ersten auffallenden Eigenschaften der Schweiz. Die glänzenden Abfalleimer im öffentlichen Raum. Städte, die sich anfühlen, wie das sterile Foyer einer Grossbank. Wer sonst hat so weisse und reine Geschichtsbücher? Ich, die aus einem Land mit braunem Geschichtsbuch komme, bin wahrlich beeindruckt. Chapeau.
Aber wer putzt? Wer baut die Tunnel, wer erntet den Kakao? Wer fährt Ski und wer chunnt immerna drunter? Und was ist mit denen, die sich keinen Käse leisten können? Denn Käse ist teuer und gute Schoggi auch – und Gold erst. Nicht einmal die Berge sind günstig hier!
Vor ein paar Wochen, zum Anlass meines 30. Geburtstages, hat eine Freundin nüchtern festgestellt: «Fatima, du hast deine gesamten Zwanziger in der Schweiz verbracht.» Huch! Gopf, meine ganzen Zwanziger. Ist das etwas Gutes? Ich hörte diesen Satz und wusste nicht, was er bedeutete.
Natürlich ist die Schweiz gut. Und dementsprechend ist es etwas Gutes, in der Schweiz zu leben, vielleicht sogar das Beste. Aber die Schweiz, was soll das sein?
Kann es so ein Land wirklich geben?
Liebes Volk, mit und ohne Schweizer Pass, halten Sie – haltet euch gut fest. Aneinander. Denn nach zehn Jahren Beobachtung bin ich fest davon überzeugt, dass es die Schweiz nicht gibt. Es gibt die Schweiz nicht. Ja! Sie haben richtig gehört: Ceci n’est pas une Suisse! [pfeiff]
Es kam mir, als ich einmal mit einem dieser schweizgekrönten Sparschäler mit Schweizer Kreuz darauf versucht hatte, eine Sellerieknolle zu schälen und jener Sparschäler daraufhin zerbrach.
Es kam mir, als die Mutter einer Freundin nach 26 Jahren in der Schweiz und dem Grossziehen zweier wunderbarer Mitglieder dieser Gesellschaft, ausgeschafft werden sollte – und das unter der eiskalten migrationsamtlichen Behauptung, es gäbe keine Elemente, die diese Ausweisung unzumutbar machten.
Es kam mir, als ich das erste Mal auf der Rütliwiese stand – und diese Enttäuschung verspürte. Diese mickrige Wiese, diese lasche Flagge, als der Wind sie nicht trug.
Es kam mir, als dieses Land über Cervelats diskutierte. Ich musste an Senf denken und dann an ein Senfglas, das ausgespült wurde, in das irgendjemand Marmelade hineingefüllt hatte, die niemandem schmeckt: Da steht man nun ganz hinten im Kühlschrank seit Jahren, ohne jemals seinen Senf beigetragen zu haben, obwohl man doch ein Senfglas ist. Wir, die 25 Prozent der wohnhaften Bevölkerung, die nicht mitstimmen dürfen, wollen kein altes Senfglas sein! Wir wollen die Diskurse hier mitbestimmen!
Es kam mir, als ich die Präambel der Schweizer Bundesverfassung las und der letzte Satz anfing zu schwitzen wie ein Raclettekäse: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.
Es kam mir, als im letzten Jahr am Bahnhof in Morges ein junger schwarzer Mann von einem Polizisten niedergeschossen wurde, und in Lebensgefahr schwebend vier Minuten lang in Handschellen sterben gelassen wurde.
Es kam mir, als der UN-Sonderberichterstatter für Folter, der auf Mandat des UN-Menschenrechtsrats handelt, aufgrund des als «Fall Carlos» bekannt gewordenen «Fall Brian Keller» intervenierte und dessen Haftbedingungen als Folter einstufte.
Gold glänzt nicht mehr so sehr, wenn man erfährt, wo es herkommt.
Wir sind einem Märchen auf den Leim gegangen! Es verhält sich mit der Schweiz wie mit einer Schatzinsel. Alle preisen die Schätze an, die dort verborgen liegen: die perfekte Demokratie, das viele Geld aus harter Arbeit und guter Moral, die Neutralität, die Qualität, ja, die Swissness als Sinnbild für das Gute! All diese Dinge, die zur Schweiz gehören, wie der Schatz zur Insel, bis du dich fragst: Kann es so ein Land wirklich geben?
Sie mögen immerzu wiederholen, dass es die Schweiz gibt, und sich dabei verhalten, wie jemand, der sich ungläubig immer wieder ins Gesicht kneift, um sich selbst zu versichern, dass er existiert. Macht es Sie nicht auch misstrauisch, sich ständig im auf der Schatzkarte eingezeichneten Kreis zu drehen? Der Schweizer Sonderweg: Alles ist gut, weil es schweizerisch ist, oder es ist schweizerisch und deshalb gut.
Jedes weitere Schweizerkreuz ein weiteres unsicheres Greifen nach der eigenen Existenz. Hopp Schwiiz. En guete mitenand im schöne Schwiizerland.
Aber kann ein Land gleichzeitig die beste Schokolade produzieren und keine Kolonialgeschichte haben? Keine Armut? Nichts mit dem Holocaust zu tun haben? Die besten Uhren bieten? Und der (verdammte) Käse! All das zusammen, gleichzeitig?
Die nächste Frage ist: Ist die Schweiz noch die Schweiz, wenn die Schweiz nicht die Schweiz ist? Verstehen Sie, geliebtes Volk?
Die neue Schweiz ist nicht feige, sie ist kritikfähig.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Oder zumindest glänzt es nicht mehr so sehr, wenn man erfährt, wo es herkommt. Wie bei dem Schatz auf der Schatzinsel. Wo kommt er her? Aus welchem Raub, aus welchem Fang, aus welchem Deal?
Doch vielleicht ist die Welt tatsächlich eine bessere ohne die Schweiz. Vielleicht. Denn ausserhalb der Schweiz gibt es noch Verbesserungspotential. Da ruht man sich nicht aus auf 50 oder eben auch nur 30 Jahren Frauenstimmrecht. Und schon gar nicht nach einem Monat in Kraft gesetzte Ehe für fast alle.
Doch liebes Volk, mit und ohne Schweizer Pass, verzweifeln Sie nicht an der Nicht-Schweiz. Ihr seid diejenigen, die die Schweiz werden können. Zusammen. Mit Menschenrechten für alle, nicht nur für die, die sie als Medaillen um den Hals tragen. Mit faireren Teilhabe-Bedingungen in Form von Bürgerrechten. Mit fürsorglichem Blick auf die schwächsten Glieder statt auf die stärksten Konten. Mit Studien zu Rassismus, Polizeigewalt, Femiziden, Queerfeindlichkeit und Barrierefreiheit, die durchgeführt und ernst genommen werden. Mit einem Willen zur Gemeinschaft, die grösser ist als drei Urkantone und ein paar Kühe.
Möge sich die Schweiz erfüllen.
Ich habe meine ganzen Zwanziger in der Schweiz verbracht. Und ich habe schon oft gehört, wenn es mir nicht gefalle, solle ich doch gehen. Doch das wäre feige. Die neue Schweiz ist nicht feige, sie ist kritikfähig und sie nimmt Kritik ernst, ohne immer wieder auf die anderen zu verweisen.
Wir sind nicht hier, um Rosinen zu picken. Wir wollen Raclette schaben. Die neue Schweiz ist nicht neutral, wo es keine Neutralität gibt. Und sie macht keine Kompromisse, wo es keinen Kompromiss gibt. Und die neue Schweiz sind wir, liebes Volk, mit und ohne Schweizer Pass. Bedingungslos wir.
Und auch, wenn ich Nationalfeiertage immer ein bisschen lächerlich finde, möchte ich heute hier, an Versprechen glauben, die gehalten werden. Blévita Loca für alle! Möge sich die Schweiz erfüllen.
Auf die Schweiz von morgen. Einen wunderschönen zweiten August, das wünsche ich mir.