Berlin wächst und wächst, zumindest wenn es nach der Einwohnerzahl geht. Das erinnert an die Zeit, in der Deutschlands Kapitale erst zur Grossstadt und dann zur Metropole wurde.
Um 1800 lebten in Berlin nur rund 170'000 Menschen. Erst um 1820 begannen Industriebetriebe, sich im Norden der Stadt niederzulassen und Arbeitssuchende aus anderen Städten und Ländern anzuziehen.
Industriehochburg Berlin
Mit der Gründung des deutschen Reichs 1871 setzte dann die eigentliche Gründerzeit ein. Dank Bahn-, Schwer- und Elektroindustrie stieg Berlin zur Industriehochburg auf.
1889 lebten schon eineinhalb Millionen Menschen dort. 1910 waren es dann zwei Millionen. Bauspekulanten konnten den grossen Reibach machen.
In der Nähe der Fabriken wurden Mietskasernen hochgezogen: mehrstöckige Häuserblocks mit mehreren nach hinten gestaffelten Höfen. In meist dunklen, feuchten Wohnungen wurden Arbeiterfamilien zusammengepfercht. So entstanden im Norden und Osten Berlins übervölkerte Arbeiterquartiere.
Das Bürgertum indes zog ins Grüne, in die ländlichen Gemeinden südlich und westlich des Tiergartens. Die Reichsten waren ohnehin schon länger in Charlottenburg zuhause, der damals reichsten Stadt Preussens.
Eine Ansammlung aus Städten und Dörfern
Berlin, wie wir es heute kennen, war zu dieser Zeit ein Konglomerat von Städten, Gemeinden und Dörfern, die das Bevölkerungswachstum zusammenschrumpfen liess – wozu auch die Eisenbahn beitrug.
Die Stadtbahn, die von West nach Ost-Berlin führt, wurde 1882 eingeweiht; das heutige Berliner Verkehrsnetz stammt grösstenteils aus der Gründerzeit.
Aber vor allem wegen der Notwendigkeit eines Sozialausgleichs zwischen Ost und West setzten sich Intellektuelle und Sozialdemokraten für ein Gross-Berlin ein. Einen Zusammenschluss der Städte und Gemeinden also, die den Berliner Grossraum ausmachten. Die betuchten Bürger im Westen stemmten sich aber beharrlich dagegen.
Erst nach der Revolution und der Gründung der Weimarer Republik 1918 fand sich in der Preussischen Landesversammlung eine knappe Mehrheit für Gross-Berlin.
Der Bevölkerungsboom kam über Nacht
Das «Gesetz über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin» wurde am 27. April 1920 verabschiedet und trat am 1. Oktober in Kraft. Mit ihm wurden acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke zu Berlin zusammengeschlossen.
Die Fläche Berlins wuchs so von 67 auf 878 Quadratkilometer. Die Bevölkerungszahl stieg über Nacht auf 3'800'000 Einwohner.
Um diejenigen zu besänftigen, die auf Autonomie beharrten, wurde Berlin in 20 Bezirke aufgeteilt, mit jeweils eigener Verwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung. Eine einzigartige Verwaltungsstruktur, die bis heute besteht, obwohl die Bezirke seit 2001 auf 12 geschrumpft sind.
Ein Archipel der Städte
Eine Einheit ist Berlin jedoch nie geworden. Die ehemals eigenständigen Städte und Gemeinden haben ihren jeweils typischen Charakter behalten. Ein Zentrum hat die deutsche Hauptstadt nur für die Besucher, die es – historisch einwandfrei – zwischen Alexanderplatz und Unter den Linden suchen. Der Berliner lebt in seinem Kiez, das ein eigenes Zentrum hat.
Von einem «Archipel der Städte» sprechen Städtebauer. Dieses gilt heute als nachhaltiges Wachstumsmodell. Genauso wie eine andere Eigenart, die die deutsche Hauptstadt aus der Gründerzeit geerbt hat: der sogenannte «Siedlungsstern».
Berlin verfügt über ein Bahnnetz, das sternförmig ins Umland ausstrahlt. Stadtrandsiedlungen sind bislang entlang der Bahnlinien entstanden, die Wald- und Wiesenflächen dazwischen unangetastet geblieben. Das soll auch das Siedlungsmodell der wieder wachsenden Stadt bleiben – wenn es nach den Stadtplanern und Politikern geht, die heute am Ruder sind.
Zum Geburtstag kann man Berlin nur wünschen, dass die künftigen Entscheidenden, zumindest diesbezüglich, nicht die Richtung ändern.