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100 Jahre Südtirol zu Italien «Die Frage der Zugehörigkeit ist nach wie vor sehr präsent»

Südtirol könnte diesen Herbst 100 Jahre Zugehörigkeit zu Italien feiern. Doch richtig gefeiert wird das nicht. Das hat seine Gründe: Die Historikerin Siglinde Clementi über die wechselvolle Geschichte einer heute weitgehend autonomen Region.

Siglinde Clementi

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Die Historikerin Siglinde Clementi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte und Koordinatorin der Arbeitsgruppe «Geschichte und Region/Storia e regione».

SRF: Südtirol im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien wurde im 20. Jahrhundert zum Spielball nationaler und nationalistischer Interessen. Frankreich, Grossbritannien und die USA als Sieger des Ersten Weltkriegs schlugen den südlichen Teil Tirols dem verbündeten Italien zu. Welche Idee stand dahinter?

Siglinde Clementi: Das waren politische Überlegungen. Das Gebiet am Brenner war Italien schon im Londoner Geheimvertrag von 1915 zugestanden worden, nachdem es sich bereit erklärt hatte, in den Krieg einzutreten.

Es war eine politische Kompensation – ein Trostpflaster für Italien. Doch Südtirol betrachtete diese Grenzziehung als Unrecht, und damit begann auch der Kampf um Selbstbestimmung.

Zur Selbstbestimmung kam es jedoch erst viel später. In der Zwischenkriegszeit griffen die italienischen Faschisten auf Südtirol zu. Mussolini italienisierte die Provinz. Was hiess das für die Bevölkerung?

Schon 1923 wurde Deutsch im öffentlichen Raum verboten, die Ortschaften bekamen italienische Namen, die deutsche Schule wurde abgeschafft. Auch die Pressefreiheit war eingeschränkt.

Es ging um die Lösung eines Grenzproblems zwischen zwei Diktaturen.

Noch schwerwiegender war der Versuch, Italienerinnen und Italiener anzusiedeln, um sie in die Mehrheit zu versetzen. Diese Politik führte bei den Deutschsprachigen zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins.

Für die Zugezogenen aus dem italienischen Süden war das auch nicht leicht, wurden sie doch angefeindet.

Damals bot Hitler Mussolini an, jene Bürgerinnen und Bürger ins Deutsche Reich aufzunehmen, die sich nicht «italienisieren» lassen wollten. Er versprach ihnen Bauernhöfe und Ackerland. Was wurde daraus?

Es ging um die Lösung eines Grenzproblems zwischen zwei Diktaturen. Der Bevölkerung wurde eine Option vorgegeben: Die Menschen mussten sich 1939 entweder für den Verbleib im faschistischen Italien oder für die Abwanderung ins Deutsche Reich entscheiden.

Dies führte zu einer Spaltung zwischen «Dableibern» und «Optanten». Die meisten entschieden sich für das Deutsche Reich – rund 75’000 Personen wurden zwischen 1941 und 1943 umgesiedelt.

Der Wegzug wurde dann gestoppt, als Südtirol 1943 von den Nazis besetzt und ans Deutsche Reich angeschlossen wurde.

Gab es während dieser beiden Diktaturen Widerstand?

Es gab einen Widerstand gegen die italienischen Faschisten, indem Kinder in geheimen Katakomben-Schulen weiter in deutscher Sprache unterrichtet wurden. Jugendgruppen führten ihre Aktivitäten im Versteck fort und zogen sich in die Berge zurück. Widerstand signalisierte auch, wer öffentlich ein Dirndl trug und traditionelle Volkslieder sang.

Der ethnische Proporz im öffentlichen Dienst ist ein Thema.

Die deutschsprachige Provinz stand damals vor einer Zerreissprobe. Spürt man das heute noch?

Die Frage der Zugehörigkeit ist nach wie vor sehr präsent und spielt in allen gesellschaftlichen Bereichen eine grosse Rolle. Ein Beispiel: Kürzlich wurden am Bozener Krankenhaus 50 italienische Ärzte angestellt, die keine Zweisprachigkeitsprüfung hatten, was für Polemiken sorgte.

Der ethnische Proporz im öffentlichen Dienst ist ein Thema. Wer dort arbeitet, muss alle zehn Jahre eine Sprachzugehörigkeitserklärung abgeben. Und im Bildungswesen stellt sich die Frage, ob es statt getrennten Schulen zweisprachige geben soll. All das ist in Südtirol ein Dauerthema.

Das Gespräch führte Sabine Bitter.

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