Es ist eine illustre Gästeschar, die im November 1922 in Lausanne eintrifft: Könige, Staatspräsidenten, Minister und Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik. Der Erste Weltkrieg ist seit ein paar Jahren offiziell vorbei, doch die Konflikte schwelen weiter. Insbesondere am südöstlichen Rand Europas, in der heutigen Türkei.
Das Ziel der Konferenz, die sich die nächsten acht Monate hinziehen wird: einen Friedensplan für den Nahen Osten zu entwickeln, wie Ethnologin und Co-Kuratorin der Ausstellung «Frontières. Le Traité de Lausanne 1923 – 2023», Gaby Fierz, erklärt: «Mit dem im Juli 1923 unterzeichneten Vertrag von Lausanne wurden die Grenzen im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches definitiv festgelegt, also jene der Türkei, Griechenlands, Syriens und des Irak.»
«Lausanne hat für die Türkei eine enorme Bedeutung», sagt Journalistin Çiğdem Akyol, Autorin des Buches «Die gespaltene Republik»: «Praktisch jede Türkin und jeder Türke kennt das Datum auswendig, den 24. Juli.»
Lausanne – ein später Sieg für die junge Türkei
Und «Lausanne» war für die Türkei ein später Sieg. Denn 1920, nur drei Jahre zuvor, hatten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs einen ganz anderen Plan. Laut dem Vertrag von Sèvres sollten nämlich grosse Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches an Frankreich, Grossbritannien und Griechenland abgetreten werden. Im Osten entstünde ein unabhängiges Armenien, den Kurdinnen und Kurden wurde ein eigener Staat versprochen.
«Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs – angeführt von Frankreich und dem Britischen Empire – haben zusammen mit dem Osmanischen Reich die Zertrümmerung des ehemaligen Vielvölkerstaats beschlossen», erklärt Çiğdem Akyol: «Der neue Staat schrumpfte auf Anatolien westlich des Euphrat zusammen», zudem verblieben die Dardanellen unter der Kontrolle der Alliierten. 80 Prozent des Territoriums gingen dabei verloren. Logisch, dass dieser Vertrag in der Türkei auf wenig Gegenliebe stiess.
Der Vertrag wurde auch nicht unterzeichnet. In der Türkei, dem verbliebenen Rest eines einstigen Weltreichs, tobte seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Machtkampf zwischen dem Sultan und seiner Entourage einerseits und einer säkularen Bewegung, den sogenannten Jungtürken, andererseits.
Zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen in Sèvres gab es bereits zwei Regierungen: eine in Istanbul und eine in Ankara. Als die Ergebnisse schliesslich vorlagen, beschuldigten die Nationalisten Sultan Mehmed VI. des Landesverrats, erlangten definitiv die Macht und unterzeichneten den Vertrag von Sèvres nicht.
Griechisch-türkischer Krieg
Ausserdem waren die Griechen da. Getrieben von der Idee, ein Grossgriechenland zu schaffen, liess Ministerpräsident Eleftherios Venizelos im Mai 1919 griechische Truppen in Anatolien einmarschieren. Das Ziel war, zumindest die Stadt Smyrna – das heutige Izmir – zu annektieren.Das eigentliche Ziel war aber die Eroberung von Konstantinopel.
Doch Mustafa Kemal machte den Griechen einen Strich durch die Rechnung. Nach monatelangen Kämpfen im Westen Anatoliens konnten Kemals Truppen in der Schlacht von Dumlupinar die griechischen Eroberer in die Flucht schlagen.
Die Bilanz des griechisch-türkischen Kriegs war verheerend. Zehntausende Soldaten starben. Zudem verfolgten beide Armeen eine Politik der verbrannten Erde. Die zum Feind erklärte Zivilbevölkerung wurde vergewaltigt, gefoltert und getötet. Städte und Dörfer wurden niedergebrannt. Im September 1922 schliesslich traf es Smyrna – jene Stadt, die 1919 von Griechenland besetzt und im Vertrag von Sèvres unter griechische Hoheit gestellt wurde.
Wer die Brände legte, die das griechische und das armenische Viertel Smyrnas komplett zerstörten, ist unter Fachleuten umstritten. Tatsache ist, dass ein Grossteil der einstigen Bevölkerung dieser multireligiösen Vielvölkerstadt in den Flammen ums Leben kam oder durch die anrückenden türkischen Truppen vertrieben wurde. Bilder aus jener Zeit zeigen Zehntausende Menschen, die sich auf den Quais der multireligiösen Vielvölkerstadt aneinanderdrängen, um den Flammen zu entkommen.
Zwei grosse Verlierer
Die Situation war Ende 1922 also eine völlig andere als drei Jahre zuvor, als in Sèvres bei Paris der erste Friedensvertrag ausgehandelt worden war. «Die Türken kamen nun als Siegermacht nach Lausanne und wurden auch so behandelt», sagt Gaby Fierz.
Ganz im Gegensatz zu den Armeniern, die in Lausanne zwar präsent waren, aber kein Gehör fanden: «Als die armenische Delegation vor der Kommission, die sich mit der Frage der Minderheiten beschäftigte, vorsprach, verliessen die Türken unter Protest den Saal.»
Die Kurden seien nicht als eigenständige Delegation vertreten gewesen. «Sie wurden quasi subsumiert unter den Türken, eine Darstellung, die sie natürlich ablehnten. Am Ende wurden sie auf vier Staaten verteilt.»
Ein Vertrag mit Folgen bis heute
Das ist bis heute so. Kurdinnen und Kurden gelten als weltweit grösstes Volk ohne eigenes Staatsgebiet. Einzig im Norden Iraks geniessen sie seit den 1970er-Jahren eine gewisse Autonomie. Armenien ging ebenfalls leer aus. Ein kleiner Teil des Siedlungsgebietes wurde der UdSSR, der grössere Teil der Türkei zugeschlagen.
Der Vertrag führte dazu, dass Millionen Menschen ihre Heimat verloren»
Der Vertrag von Lausanne stehe denn auch für die Rückkehr der Türkei auf das internationale Parkett, sagt Çiğdem Akyol: «Doch dieser Vertrag bedeutete nicht nur Frieden. Er war auch der Beginn von Vertreibungen und Zwangsdeportationen und führte dazu, dass Millionen Menschen ihre Heimat verloren», erklärt Akyol und nimmt Bezug auf das ebenfalls in Lausanne unterzeichnete Abkommen zum «obligatorischen Bevölkerungsaustausch».
Vertrieben, umgesiedelt, entwurzelt
«Getauscht» wurden Griechinnen und Griechen aus Anatolien mit Türkinnen und Türken aus Griechenland, und zwar aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Die allermeisten von ihnen hatten seit Generationen in den jeweiligen Ländern gelebt und sprachen auch deren Sprache, jedoch nicht die Sprache desjenigen Landes, in das sie nun deportiert wurden. «Das war kein Austausch, sondern eine Zwangsvertreibung», sagt Gaby Fierz dazu.
Eine Religion, eine Sprache, ein Staat – eine Antithese zum multiethnischen Osmanischen Reich.
Es hatte auch mit der damals vorherrschenden Doktrin zu tun: «Eine Religion, eine Sprache, ein Staat.» Das sei das Konzept des Nationalstaats gewesen, wie es im 19. Jahrhundert entworfen wurde, sagt Fierz, «eine Antithese zum multiethnischen Osmanischen Reich. Aber es wurde rigoros durchgesetzt.»
Rund 1.5 Millionen Menschen – die genauen Zahlen sind auch hier umstritten – wurden damals in wenigen Monaten «getauscht» und trafen auf eine lokale Bevölkerung, die weder darauf vorbereitet noch davon begeistert war.
Instrumentalisierung eines historischen Datums
Interessant ist, dass selbst die grosse Gewinnerin von damals, die Türkei, den Vertrag von Lausanne heute anders beurteilt. Als Präsident Recep Tayyip Erdoğan 2020 die Umwidmung des berühmten einstigen Museums Hagia Sophia in eine Moschee feierte, tat er das am 24. Juli, dem Datum der Unterzeichnung des Vertrages von Lausanne.
Ein Schlag ins Gesicht für die Anhänger einer säkularen Türkei, sagt Çiğdem Akyol: «Für Kemalisten und Säkulare war der Vertrag von Lausanne ein Sieg über Europa.» Für die Islamisch-Konservativen hingegen, die seit 20 Jahren an der Macht sind, sei vor allem mit einem Gebietsverlust und mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches verbunden.
Der Vertrag von Lausanne – unterzeichnet vor 100 Jahren – hat Grenzen neu gezogen und Länder definiert, aber er hat dabei auch einige Fragen offengelassen, Familien entzweit und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Das Ziel – den Nahen Osten zu befrieden – hat er nicht erreicht.