Die Nationalbibliothek in Bern ist ein Fundus für alle, die sich für die Schweiz interessieren. Über ein Jahrhundert lang schon sammelt sie alles, was über die Schweiz publiziert wird: Millionen von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und Tondokumenten.
Die Gründung der Landesbibliothek, wie die Nationalbibliothek ursprünglich hiess, fällt in eine Zeit des nationalen Aufbruchs. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts ist die Schweiz umgeben von starken Nationalstaaten. Der Kleinstaat Schweiz muss sich behaupten.
Doch der innere Zusammenhalt des kulturell heterogenen Landes ist noch immer wackelig. Auch sind die Wunden des Konflikts zwischen den Liberalen und den Katholisch-Konservativen, der 1847 im Sonderbundskrieg gegipfelt hat, noch längst nicht alle verheilt.
Symbol der Identität
Die Politik versucht ab den 1880er-Jahren die Reihen zu schliessen: Das Schweizer Kreuz wird zum offiziellen Wappen der jungen Nation, der 1. August zu deren offiziellem Feiertag. In Graubünden entsteht der Nationalpark. In Zürich öffnet das Landesmuseum.
Die Landesbibliothek sollte ebenfalls zur nationalen Identität beitragen, sagt der Historiker Marco Jorio, ehemaliger Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz: Die Politik habe mit der Landesbibliothek «eine vaterländische Bibliothek» ins Leben gerufen. Sie sollte «das Schaffen der Schweizer Geisteswelt zusammenfassen und öffentlich darstellen».
Zwar gibt es zu jener Zeit bereits Kantonsbibliotheken und Volksbüchereien. «Die Zeitgenossen vermissten jedoch eine zentrale Sammelstelle, welche das gesamte nationale Schriftgut vereinigte», so Jorio.
Wohnzimmer als Lesesaal
So hochtrabend die Ziele der Bibliothek sind, so bescheiden sind deren Anfänge, als sie am 2. April 1895 ihre Arbeit aufnimmt – zunächst in einer Vierzimmerwohnung in der Berner Altstadt.
«Das Hauptproblem war, dass man bei Null anfangen musste», sagt Marco Jorio. Es gibt damals keine Vorgängerbibliothek, deren Bestand man übernehmen könnte.
So ist es an den ersten Angestellten – zwei Bibliothekaren und ihrem einzigen Gehilfen –, Material zusammenzutragen und zu katalogisieren. Publikum ist in den ersten Jahren keines zugelassen. Und als nach einiger Zeit im Wohnzimmer der Wohnung der erste Lesesaal aufgeht, kommt praktisch niemand.
Die Bibliothek der Bibliotheken
Dies ändert sich mehr und mehr. Die Bibliothek erhält neue Räume. 1931 bezieht sie ihren festen Standort an der Berner Hallwylstrasse und mausert sich in den Jahrzehnten danach zur führenden Bibliothek des Landes.
Sie ist aufgrund ihres wachsenden Bestands unverzichtbar für die Forschung zur Schweiz. Zudem übernimmt sie eine herausragende Rolle, weil sie den Gesamtkatalog aller Schweizer Bibliotheken führt.
Verlust an Bedeutung
Ab den 1970er-Jahren erhält sie jedoch zunehmend starke Konkurrenz durch die Universitätsbibliotheken. Diese sind finanziell weit besser ausgestattet, vernetzen sich miteinander und haben die Nase vorn bei der Digitalisierung.
«Die Landesbibliothek hat den Technologiesprung verschlafen», sagt der Historiker Marco Jorio. Ein Rückstand, den die altehrwürdige Institution später nicht mehr wettmachen kann.
Und so ist ihre Bedeutung als Sammlerin von Helvetica heute zwar noch immer unbestritten gross. Aber die Zeiten der Nationalbibliothek als Leuchtturm, der alle anderen Bibliotheken überragt, sind vorüber.