«Gandhi ist ein Prophet, ohne Ehre in seinem eigenen Land», sagt Ramachandra Guha. Kaum einer kennt Gandhi heute besser als der Historiker. Guha hat zwanzig Jahre lang das Leben und Schaffen Gandhis studiert und zwei Biographien über ihn geschrieben.
Gandhis bescheidener Lebensstil, das Spinnen der eigenen Kleider, passe nicht mehr in das Bild des aufstrebenden und konsumhungrigen Indiens von heute. Non-violence, die Gewaltlosigkeit, die Gandhi propagierte, werde heute als Zeichen der Schwäche gesehen, so Guha.
Denn Indien sei im Griff des Hurra-Patriotismus der Bharata Janata Party, BJP von Premierminister Narendra Modi. Modi präsentiert sich heute als der starke Mann Indiens. So fährt er einen harten Kurs gegen Pakistan um den Patriotismus in Indien zu stärken. Ein Antagonismus, den Gandhi stets vermeiden wollte. Modis Verhältnis zu Gandhi ist daher äusserst ambivalent.
«Kaschmir ist ein Open-Air Gefängnis»
Guha nennt das Beispiel der jüngsten Abriegelung von Kaschmir. Im August hatte die Regierung der umstrittenen Region die Teilautonomie aberkannt und noch immer gilt dort eine Ausgangssperre. «Kaschmir ist ein Open-Air Gefängnis. Mit Non-violence hat das wenig zu tun», so Guha.
Aber nicht nur in der Kaschmirfrage sind die beiden nicht auf derselben Wellenlänge. Denn Gandhis Vorstellung von Indien sei eine fundamental andere als jene von Narendra Modi. Gandhi stellte sich Indien als eine Schweiz im Makro-Format vor, sagt der Historiker.
«Ihr habt drei Sprachen in der Schweiz, wir haben 17! Ihr habt eine Teilung zwischen Protestanten und Katholiken, wir haben Hindus, Muslime Shiks und Buddhisten. Die nationale Identität Indiens hing nicht von einer Sprache oder einer Religion ab. Einheit durch Vielfalt – das war das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, das Gandhi verkörperte.»
Das multikulturelle Indien steht unter Druck
Ein grandioses nationales Experiment war Indien, so der Historiker. Doch dieses multikulturelle Indien stehe nun unter Druck von Seiten der Hindu-Nationalisten, die seit fünf Jahren unter Narendra Modi an der Macht sind. Ihnen schwebe ein homogenes Indien vor, eine Nation von Hindus. Das sei das pure Gegenteil von Gandhis Idee der indischen Nation, sagt der Historiker.
Während die Muslime nach der Abtrennung Pakistans von Indien ihre Nation erhielten, machte Gandhis Multikulturalismus den Hindu-Nationalisten einen Strich durch die Rechnung. Ihnen blieb ihre Hindu Nation verwehrt. Dies schürte Wut. In einem Ausmass, dass ein Hindu-Fanatiker namens Nathuram Godse ein Jahr nach der Unabhängigkeit Indiens Gandhi ermordete.
Diese Tat, sagt der Historiker heute, entsetzte die vielen liberalen Hindus. Der Vater der Nation ermordet von einem Hindu-Extremisten – das liess das Hindu-Nationalistische Gedankengut über Jahrzehnte ein Schattendasein fristen. Erst die Ermordung Gandhis rettete deshalb die Idee eines multikulturellen Indiens, sagt Ramachandra Guha etwas pointiert.
Der Fundamentalismus nimmt zu
Die Tatsache, dass nun dieser religiös-fundierte Nationalismus wieder an die Oberfläche gelangt, habe damit zu tun, dass der Islamische Fundamentalismus um Ausland zugenommen habe: Fundamentalismen nährten sich voneinander, so der Historiker.
Dies lässt die Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan wieder aufflammen und die liberalen, pluralistischen Werte, die Gandhi verkörperte, langsam in Vergessenheit geraten.