«Mit der einen Hand kassieren wir ihre Dienstleistungen ab, in der anderen Hand halten wir den Knüppel.» So kritisierte der Schriftsteller Adolf Muschg vor 20 Jahren den Umgang mit Sans-Papiers in der Schweiz. Es war ein bewegtes Jahr, in dem erstmals Sans-Papiers aus dem Schatten der Illegalität traten und öffentlich eine Aufenthaltsbewilligung forderten.
Alles begann am 25. April 2001 mit der Besetzung einer Kirche in Lausanne. Ehemalige Saisonniers aus Kosovo und ihre Familien, denen nach vielen Jahren in der Schweiz die Wegweisung drohte, beanspruchten Kirchenasyl. Die Unterstützung aus der Bevölkerung war gross. Viele Leute brachten Esswaren und Spielzeug für die Kinder in die Kirche.
Kirchenbesetzungen im ganzen Land
Die Aktion in Lausanne wurde zum Auftakt für mehrere Kirchenbesetzungen – zuerst in der Romandie, später auch in der Deutschschweiz. «Alle hatten einen Mutanfall», sagt Pierre-Alain Niklaus, der sich damals für die Anliegen der Sans-Papiers engagierte, später die Anlaufstelle in Basel aufbaute und auch als Sachbuchautor zur Thematik auftritt.
«Erstmals erzählten Sans-Papiers öffentlich davon, dass sie in Haushalten putzen, in der Landwirtschaft arbeiten oder in der Basler Münsterbauhütte.» Viele Schweizerinnen und Schweizer erfuhren zum ersten Mal, dass Tausende Menschen illegal im Land arbeiten, oft unter prekären Bedingungen leben und im Konfliktfall ihre Rechte nicht einfordern können.
Viel erreicht – trotz Niederlage
Der Wunsch nach einer kollektiven Regularisierung sollte sich nicht erfüllen. Nach einer grossen Demonstration in Bern im November 2001 gab es zwar eine dringliche Debatte im Parlament. Doch danach bestätigten beide Kammern die bundesrätliche Politik der Einzelfalllösung.
Die Kirchenbesetzungen lösten sich auf. Manche Sans-Papiers versuchten ihren Aufenthalt über die Härtefall-Klausel zu regeln. Viele tauchten ab.
Auch wenn die Bewegung mit ihrer Hauptforderung vor 20 Jahren eine Niederlage erlitt, habe sie doch viel erreicht, sagt Pierre-Alain Niklaus: «Sans-Papiers begannen sich damals als politische Akteure zu begreifen und erfuhren, dass man auch dann Grundrechte hat, wenn man laut Gesetz nicht hier sein darf.»
Krankenkasse kann zur Falle werden
Die wichtigsten Errungenschaften aus Sicht von Bea Schwager, langjährige Leiterin der Anlaufstelle in Zürich, ist der Zugang für Sans-Papiers zu einigen Sozialversicherungen, Schulen und Lehrstellen. Allerdings relativiert sie: «Viele Sans-Papiers können sich eine Krankenkasse schlicht nicht leisten. Wenn sie die Rechnungen nicht bezahlen können, droht ihnen die Betreibung und Aufdeckung.»
Auch die Möglichkeit, eine Lehre zu machen, wird von Jugendlichen nur selten genutzt, da laut Bea Schwager die Kriterien für Gesuche zu hoch seien und jeweils die ganze Familie überprüft werde.
«Wir sind in einem Spannungsfeld»
Die Juristin Cornelia Lüthy dagegen, Vizedirektorin im Staatsekretariat für Migration (SEM) für den Bereich Zuwanderung und Integration, findet die Anforderungen angemessen: «Diese Personen sind illegal in der Schweiz und haben das Migrationsgesetz unterlaufen. Wir sind hier in einem Spannungsfeld.»
Da es offenbar in der Schweiz viele Arbeitgebende gibt, die das Angebot von illegalen Arbeitnehmenden gerne nutzen, sei es wichtig, Schwarzarbeit zu bekämpfen: «Wir müssen einerseits das Ausländerrecht durchsetzen und Wegweisungen machen. Andererseits müssen wir die Härtefallklausel dort anwenden, wo es Sinn macht und der Integrationsprozess fortgeschritten ist.»
Grosse kantonale Unterschiede
Sans-Papiers haben die Möglichkeit, ein Härtefallgesuch zu stellen, um eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Allerdings führt dieser Weg nur für wenige zum Ziel: «Wir müssen den Sans-Papiers meistens abraten, ein solches Gesuch zu stellen», sagt Bea Schwager: «Wenn es abgelehnt wird, müssen sie die Schweiz verlassen.»
Stossend findet Schwager die grossen kantonalen Unterschiede im Umgang mit Härtefallgesuchen. Ob die Anträge überhaupt dem SEM unterbreitet werden, entscheiden die Kantone.
Wie unterschiedlich sie die Gesuche behandeln, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Der Grossteil der 1366 Härtefallbewilligungen, die das SEM 2020 erteilt hat, betrafen Sans-Papiers im Kanton Genf. Dort wurden im Zug der «Opération Papyrus» grosszügigere Regularisierungen mit Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit gekoppelt. Mit Erfolg, wie eine Auswertung der Universität Genf zeigte.
Kaum Härtefallbewilligungen für die Deutschschweiz
Aus der Deutschschweiz gelangten in den vergangenen Jahren nur wenige Härtefallgesuche ans SEM. Zürich zum Beispiel, wo verhältnismässig viele Sans-Papiers leben, überwies 2020 gerade einmal sieben Gesuche.
Bea Schwager sagt: In Zürich könne es vorkommen, dass ein Härtefallgesuch von Sans-Papiers abgelehnt werde, die alle Kriterien erfüllen, seit 26 Jahren hier arbeiten und perfekt Schweizerdeutsch sprechen. Wegen der kantonalen Ungleichbehandlung von Härtefallgesuchen plädiert sie für eine erleichterte Regularisierung.
Das wäre aus Sicht von Cornelia Lüthy vom SEM ein falsches Signal: «Damit wird das Verhalten belohnt, gegen das Gesetz zu verstossen. Wir müssen auf dem bisherigen Weg weitergehen und den Dialog mit allen Beteiligten weiterführen.» Der Ermessensspielraum, den die Kantone bei der Auslegung des Gesetzes habe, sei gewollt.
Bundesrat will die bisherige Politik weiterführen
Im Dezember 2020 nahm der Bundesrat Stellung zur Situation der Sans-Papiers. Er kam nach einer Prüfung zum Schluss, das heutige System sei angemessen.
Eine grosse Enttäuschung für Bea Schwager: «Ich bezeichne die Politik als heuchlerisch. Dass die Sans-Papiers hier leben und arbeiten, ist eine Tatsache. Der Staat ist nicht bereit, seine Verantwortung dieser Situation gegenüber wahrzunehmen, die er nicht verhindern konnte.»
Dem widerspricht Cornelia Lüthy: «Es sind in den letzten Jahren grosse Anstrengungen in den letzten Jahren unternommen worden, die Schwarzarbeit zu bekämpfen und das Ausländerrecht durchzusetzen. Wir dürfen nicht Massnahmen ergreifen, die das Problem auf längere Sicht verschlimmern.»