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20. Jahrestag 9/11 ist noch lange nicht Geschichte

Wie der Anschläge und Opfer gedenken? Am 20. Jahrestag von 9/11 zeigt sich einmal mehr die Gespaltenheit der USA.

Die offiziellen Gedenkfeiern vermitteln den Eindruck von Eintracht: Punkt 9.46 Uhr läuten die Kirchenglocken in New York City die erste von sechs Schweigeminuten ein, die an die Terroranschläge vom 11. September 2001 erinnern. Im Laufe des Vormittages werden an Ground Zero im Beisein der Hinterbliebenen die Namen der 2977 Opfer vorgelesen.

Am Abend strahlen in Lower Manhattan an der Stelle des zerstörten World Trade Centers zwei riesige Phantomtürme aus Licht in den Himmel. Es werden Reden gehalten, die von Versöhnung und Solidarität handeln. Dann gehen alle wieder nach Hause. Spätestens dort ist die Einigkeit zu Ende.

Streiten anstatt Gedenken

9/11 ist in den USA zu einem Anlass für Streitereien geworden. Die Flut von Büchern und Filmen widerspiegelt die Konflikte. Ebenso das 9/11 Memorial and Museum. Dessen Entstehung war von Anfang an von bitteren Auseinandersetzungen begleitet.

Wie liessen sich die Attentäter darstellen, ohne die ohnehin bereits um sich greifende Islamophobie zu schüren? Waren die Vereinigten Staaten wirklich ganz und gar unverschuldet zum Ziel der Angriffe geworden? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Sorgfalt und Sentimentalität, zwischen Augenwischerei und Kommerz?

eine US-Flagge steckt im Betonschild mit Namen der Opfer
Legende: Die Namen der fast 3000 Opfer sind im 9/11-Memorial eingraviert. IMAGO / NurPhoto

Diesen und anderen Fragen geht der neue Dokumentarfilm «The Outsider» nach, der nun aber seinerseits Gegenstand von Kontroversen geworden ist. In dem Film würde, so die Kritikerinnen und Kritiker, die Welt zu sauber in Idealisten und korrupte Geschäftsleute geteilt.

Kontroverse Dokfilme

Auch Spike Lee ist mit seinem jüngsten Werk «NYC Epicenters: 9/11 → 2021 ½» in die Kritik geraten. Dem Regisseur wurde vorgeworfen, er räume Verschwörungstheoretikern in der vierteiligen Doku-Serie zu viel Platz ein.

Seit 20 Jahren kursieren wilde Spekulationen über die Ereignisse jenes Tages, unter anderem solche, wonach die Attentate in Wahrheit von dunklen Kräften der amerikanischen Regierung inszeniert wurden.

Spike Lee reagierte auf die Kritik, indem er die Interviews mit den sogenannten «Truthers» kippte und die Serie um eine halbe Stunde kürzte.

Fehlende gemeinsame Identität

Der Streit über 9/11 ist symptomatisch für die USA der Gegenwart. Und tragisch. Symptomatisch, weil er einmal mehr auf die Gespaltenheit des Landes verweist. Tragisch, weil für eine so junge und heterogene Nation wie die Vereinigten Staaten ein Konsens über prägende Ereignisse wie 9/11 entscheidend ist.

Denn dieses Land besteht zu einem grossen Teil aus Menschen, die ihre eigene nationale Geschichte mit sich bringen. Eine gemeinsame Geschichte muss ständig gebildet werden. Gerade in letzter Zeit wird zwar häufig darüber diskutiert, wie diese Geschichte erzählt werden soll – darüber, wer sie schreibt und wer darin ausgelassen wurde.

Bis anhin war man sich jedoch mehr oder wenig über die Tatsachen einig, die diese Geschichte ausmachen. Wie die Kontroversen um 9/11 illustrieren, ist das nun nicht mehr der Fall.

In Frage gestellt wird die Wirklichkeit an sich. Der gemeinsamen Identität, die immer wieder beschworen wird, um den Zusammenhalt dieses Landes überhaupt zu garantieren, wird dadurch jede Grundlage entzogen.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 09.09.2021, 08:06 Uhr

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