Man solle vorsichtig sein, «Gott» zu sagen, erklärte Dorothee Sölle in einer «Sternstunde» im Jahr 1997: «Weil es so grauenvoll ist, was für ein Unsinn damit gemacht wird.»
Tatsächlich kann Sölles Theologie – ihre Theo-Poesie – als Neubuchstabieren des Göttlichen verstanden werden. Die Texte der evangelischen Theologin sind eindringlich, kämpferisch, revolutionär. Aus ihnen spricht ein Ringen mit Gottesbildern, die ihr – heute würde man sagen – «toxisch» erschienen.
Eine Theologie nach Auschwitz
1929 in Köln geboren, erlebte sie die Nazi-Zeit als Heranwachsende in einer liberalen, gutbürgerlichen Familie. Nach und nach stürzte ihr eigenes Deutschlandbild nach dem Krieg ein. Sie teilte die grosse Frage ihrer Generation: Wie konnte das passieren?
Die Auseinandersetzung mit der Shoah brachte sie zum Studium der Theologie. Und in Opposition zu einer Theologie, die Gott nur gross und den Menschen nur klein denkt. «Gott war ganz klein in Auschwitz», zu diesem Ergebnis kam Dorothee Sölle.
Gott brauche Freundinnen und Freunde, denn Gott habe nur unsere Hände und Füsse. «Es ist ein Gott, der angewiesen ist auf die Menschen», fasst die Luzerner Theologin Li Hangartner heute zusammen. Sie kannte Dorothee Sölle persönlich und ist heute mit Fulbert Steffensky verheiratet, dem Witwer Sölles.
Sie setzte auf die Stärke des Menschen
Dorothee Sölle entwickelte eine Theologie, die in den Aktivismus führte. Sie gründete 1968 das «Politische Nachtgebet», protestierte gegen Aufrüstung und für den Frieden. «Sünde» bestand für sie in strukturellen Ungerechtigkeiten. Und «Erlösung» sah sie im kollektiven Handeln für gerechtere Verhältnisse.
«Ja, Dorothee Sölle setzte auf die Stärke der Menschen», sagt Li Hangartner auf die Frage, ob diese Theologie nicht eine Theologie für Starke sei. Kritikerinnen und Kritiker sagen, für manche Menschen gehe diese Theologie nicht auf, sie bräuchten den Glauben an eine transzendente Erlösung: Gerechtigkeit auch nach diesem Leben.
Ein neues Bild von Gott
Es sei wichtig zu verstehen, in welcher Zeit Dorothee Sölle theologisierte, erwidert Hangartner. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Vorstellung eines allmächtigen Gottes in Kirche und Gesellschaft weit verbreitet. Der gute Patriarch, der allwissend und gütig über allem thront. «Mit so einem Gott kann ich nichts anfangen», sagte Dorothee Sölle.
Sie habe «wie in einer zweiten Naivität eine andere Sprache gesucht, für das, was Gott, was Mensch, was Welt sein könnte», sagt Li Hangartner. Heute würden viele Menschen Gott ganz hinter sich lassen, weil sie sich an Kirche und Theologie störten. Dorothee Sölle habe sich nie davon abgewandt, trotz aller Reibungen.
Eine Provokateurin ihrer Zeit
Die habilitierte Theologin Sölle bekam in Deutschland nie eine Professur für Theologie. Ihre Thesen waren dafür wohl zu provokant. In den USA lehrte sie 12 Jahre lang am Union Theological Seminary in New York. Im deutschsprachigen Raum wurde Sölle durch ihre Bücher und Auftritte zur bekanntesten Theologin des 20. Jahrhunderts. Sie füllte grosse Hallen, beispielsweise bei Kirchentagen.
Und heute? Die Vorstellung eines allmächtigen, patriarchalen Gottes ist verblasst. Ihre Lyrik, die die Grenzen des Sagbaren auslotet und gegen eine Welt protestieren, die ungerecht bleibt: Das empfinden auch jüngere Menschen als kraftvoll und inspirierend.