1. Der erste Zweiräder ersetzte das Pferd
12. Juni 1817: Schaulustige drängen sich um eine Chaussee in Mannheim. Auftritt von Karl Drais: Spross des gehobenen Adels, ein Forstlehrer mit Bodenhaftung, ein schräger Kauz auf sonderlichem Gefährt. Vor verblüffem Publikum führt der Tüftler seinen neusten Streich vor: die Draisine.
Drais sitzt auf einem Sattel zwischen zwei Räder und stösst sich mit den Füssen vom Boden ab – ähnlich wie bei einem Kindervelo. Nur ist seine Laufmaschine 22 Kilo schwer. Eine Stunde dauerte die Jungfernfahrt von 14 Kilometern; ein Velofahrer von heute könnte gemütlich nebenherfahren.
Das Rad wird genau zur richtigen Zeit neu erfunden: Ein Jahr zuvor ist wegen einem indonesischen Vulkan der Sommer ausgefallen und mit ihm die Haferernte. Und weil Hafer fehlte, starben viele Pferde. Also braucht man ein neues Transportmittel.
2. Dandys sind die Velofahrer erster Stunde
Bis jemand in die Pedale tritt, dauert es noch ein halbes Jahrhundert: Auf der Weltausstellung in Paris 1867 wirbt der Kutschenbauer Pierre Michaux für sein «Veloziped» mit Tretkurbeln am Vorderrad.
Später gibt er ihm den sprechenden Namen «Knochenschüttler». Die Engländer nennen die ersten Zweiräder «Hobby Horses» oder «Dandy Horses», weil sich damit vor allem junge, wohlhabende Snobs die Zeit vertreiben.
Weil der Umfang des Vorderrads das Tempo bestimmt, wird dieses immer grösser: Bis 1870 wandert gleichzeitig der Sattel über das Vorderrad und thront 1,5 Meter über dem Boden. Bereits das Auf- und Absteigen erfordert Abenteuerlust. Umso geeigneter erscheint das Hochrad den Dandys als statusgerechtes Gefährt.
Wer bremst oder unebene Stellen im Kopfsteinpflaster übersieht, überschlägt sich leicht. Die Pedale drehen ständig mit: Geht's bergab, müssen die Fahrer die Beine abspreizen oder sie akrobatisch über den Lenker werfen – der zu diesem Zweck wie ein Schnurrbart geschwungen ist.
Chic sieht's aus, aber funktional fährt das Hochrad in die Sackgasse. Heute entlockt es nur den Dandys und Damen der Style Rides manchmal noch einen nostalgischen Seufzer.
3. E-Bikes gab es schon im 19. Jahrhundert
Auf das Hochrad folgt 1888 das Sicherheitsniederrad, das seine Pragmatik bereits im Namen trägt. Zwei zündende Ideen steuert der britische Tierarzt John Boyd Dunlop bei: die Fahrradkette und Luftreifen aus Gummi.
Mit dem Rad kommen die Radrennen. Beim «Bol d'Or» in Paris radeln 1899 die besten Fahrer um die Wette. Nach 24 Stunden und 1020 Kilometern auf der Rennbahn fährt der Schrittmacher allen voraus ins Ziel: Ein elektrisch betriebenes Tandem der britischen Marke Humber, bei dem ein Mittelmotor mit vier Bleiakkus die Muskelkraft der Radler verstärkt.
Patentiert wurde das erste E-Bike vor über 130 Jahren, von einem französischen Ingenieur. Heute sind die Motoren so klein, dass die «Tour de France» sich gegen Elektrodoping wappnet.
4. Dank dem Velo haben Frauen die Hosen an
Zwar verkleidet sich manche Frau als Mann, um an Hochrad-Rennen teilzunehmen. Doch Radfahren ist lange eine Männerdomäne.
In den 1890er-Jahren gibt es erste Damenmodelle. Die bürgerlichen Frauen radeln zum Picknick ins Grüne und erleben im Sattel ein neues Gefühl von Freiheit. Derweilen warnen Wissenschaftler Frauen vor dem «Fahrradgesicht»: Zu viel Fahrtwind verforme und entstelle die Gesichtszüge.
Doch die frühen Radlerinnen kämpfen mit ganz anderen Problemen: Die bodenlangen Röcke verheddern sich in den Speichen, ihre Kostüme sind für das Fahren zu eng geschnürt. Also passt sich irgendwann die Kleidung dem Velo an: Das Korsett verschwindet, die Röcke weichen Beinkleidern und Pumphosen.
Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen.
5. Opel machte früher Velos
Während das 20. Jahrhundert anbricht, wird das Fahrrad für jeden erschwinglich und massentauglich. Hergestellt wird es am Fliessband der deutschen Firma Opel – nach der Nähmaschine das zweite technische Serienprodukt des späteren Autokonzerns.
Das Velo wird zum alltäglichen Gefährt des kleinen Mannes. Linke Gewerkschaften gründen Radfahrer-Vereinigungen und streuen radelnd ihre Flugblätter. Vor allem aber verteilt die Post damit zügiger die Briefe – bis nach dem Zweiten Weltkrieg das Auto das Velo überholt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Hörpunkt, 02.07.2017, 11:00 Uhr