Karl Marx war ein Kind der Industrialisierung. Seine Aufmerksamkeit galt der sozialen Not, die im 19. Jahrhundert in der neu entstandenen Gesellschaftsschicht des Industrieproletariats um sich griff: überlange Arbeitszeiten, schlechte Entlöhnung, Alkoholismus, Kinderarbeit.
Arbeiterschaft im Fokus
Die rücksichtslose Ausbeutung der Fabrikarbeiter rückte der Deutsche Karl Marx ins Zentrum seines Denkens und Schaffens. Sie sei, schrieb er in seinem Hauptwerk «Das Kapital», eine logische Konsequenz des Kapitalismus.
Ihn gelte es in einer Revolution zu überwinden – und danach eine gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsform ohne Privatbesitz zu schaffen.
Für die Linke wurde Marx damit zu einer Leitfigur des politischen Kampfs – auch in der Schweiz. Als 1864 in London die Erste Internationale gegründet wurde, der erste Zusammenschluss marxistischer Arbeitergesellschaften verschiedener Länder, bildete sich auch in der Schweiz eine Anzahl örtlicher Sektionen.
Sie einte das Ziel, im Sinne der Schriften von Karl Marx, die Lage der Arbeiterschaft zu verbessern und dafür zu kämpfen, auch mittels Streiks.
Als sich die Schweizer Sozialisten 1888 in der Sozialdemokratischen Partei formierten, war in deren erstem Programm – ganz der Marxschen Rhetorik folgend – die Rede vom Klassenkampf, von der Überwindung des Kapitalismus und von der staatlichen Lenkung der Wirtschaft. In ihr glaubte man die Lösung für die brennenden Probleme der Arbeiterschaft zu erkennen.
Reformen ohne Marx
Allerdings gab es in der Schweiz eine ganze Reihe von Massnahmen, die das Los der Fabrikarbeiter verbesserten, ohne dass sich dabei ein direkter Einfluss des Denkens von Marx nachweisen liesse.
So war etwa das epochale erste nationale Fabrikgesetz von 1877 vom damals rein bürgerlichen Bundesrat angeregt worden: Es legte den für das ganze Land verbindlichen maximalen 11-Stunden-Tag fest und stellte Frauen und Kinder unter besonderen Schutz.
Der Streikführer greift an
Stark vom marxistischen Denken geprägt war der Zürcher Nationalrat Robert Grimm, der Anführer des Generalstreiks im Herbst 1918. Grimm liess damals in einer legendären rhetorischen Kanonade im Nationalrat eine ganze Salve von marxistisch durchtränkten Argumenten auf die bürgerliche Ratsmehrheit nieder.
Die Gegner der streikenden Arbeiter – die Bürgerlichen, der Bundesrat, die Armee – hätten zwar «die Macht der Bajonette» und «die Macht der brutalen Gewalt», rief Grimm in den Saal. Auf Seiten der Streikenden habe man dafür «den Glauben an die Sieghaftigkeit der Idee».
Erstarkung der Linken
Grimm bediente sich in seiner Rede der marxistischen Vorstellung, dass die historische Entwicklung in erster Linie den ökonomischen Verhältnissen folge, deshalb unabhängig vom menschlichen Willen verlaufe und schliesslich zwingend zur Revolution führe.
Diese könne friedlich verlaufen, aber: «Die Bewegung wird sich durchsetzen, heute, morgen oder übermorgen.» Zwar gab es am Ende keine Revolution. Immerhin führte der Generalstreik aber doch zu einer Erstarkung der politischen Linken und zu sozialen Reformen.
Antikommunistische Paranoia
Eine neue und völlig andere Bedeutung erhielt der Marxismus in der Schweiz zur Zeit des Kalten Kriegs. Wer sich im Klima der damaligen hysterischen Angst vor dem Sowjetkommunismus zum Marxismus bekannte, lief Gefahr, stigmatisiert zu werden.
Besonders vergiftet war das antikommunistische Klima vor dem Hintergrund des Ungarnaufstandes 1956: Insbesondere Mitglieder der kleinen kommunistischen «Partei der Arbeit» wurden offen an den Pranger gestellt. Sie waren Ausgrenzungen, ja Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt.
Marxistische Linke im Visier
Der bekannte Schweizer Historiker Jean-Rodolf von Salis geisselte diese Vorgänge 1961 in einem Vortrag als Ausdruck eines «Ungeists». Er rief dazu auf, die leidenschaftliche Gegnerschaft zur Sowjetunion nicht gegen innen zu richten und marxistische Linke ins Visier zu nehmen: «Man bekämpft die Inquisition nicht durch die Inquisition».
Herber Dämpfer für Marxisten
Der Fall der Berliner Mauer 1989 beendete nicht nur das Experiment des «real existierenden Sozialismus» in Osteuropa. Er bedeutete auch für Marxistinnen und Marxisten in der Schweiz einen herben Dämpfer.
Es zeigte sich, wie sehr das ökonomisch-philosophische Denken von Karl Marx in der allgemeinen Wahrnehmung gleichgesetzt wurde mit der bitteren Wirklichkeit in den kommunistischen Diktaturen.
Und heute? Der Marxismus bleibt wohl auch heute, da die Welt kaum gerechter geworden ist, von Bedeutung: Er ruft in Erinnerung, dass das bestehende wirtschaftliche und gesellschaftliche System nicht in Stein gemeisselt ist, sondern kritisiert und verbessert werden kann – und auch soll.