Tiroler Gesangsgruppen sangen es zuerst auf Jahrmärkten, dann auch in europäischen Konzertsälen: «Stille Nacht, heilige Nacht». Missionare nahmen es mit in die Kolonien, wo es von zahlreichen Gesellschaften adaptiert wurde. Der Hymnologe Andreas Marti über die ungewöhnliche Reise eines einzigartigen «Hits».
SRF: Mögen Sie das Lied «Stille Nacht, heilige Nacht»?
Andreas Marti: Ich habe es zuerst gehasst. Habe dann aber allmählich entdeckt, dass es nicht so schlecht ist wie sein Ruf.
Warum haben Sie es gehasst?
«Stille Nacht» war für mich der Inbegriff von sentimentalisierter Weihnacht, die am eigentlichen Evangelium vorbeigeht.
Wie ist das Lied entstanden?
«Stille Nacht» wurde von einem Pfarrer und einem Lehrer in einer armen österreichischen Gemeinde geschrieben. Ein Orgelbauer fand das Lied in Oberndorf und nahm es mit in sein heimatliches Zillertal.
Die erste Zeile ist ein Signal. Die vergisst man nicht.
Dort bekamen es die Geschwister Strasser in die Hand, nahmen es mit auf den Weihnachtsmarkt nach Leipzig, wo sie Handschuhe und Alpenwürste verkauften und Tiroler Volkslieder sangen. Da rutschte eben auch «Stille Nacht» darunter.
Warum funktioniert das Lied so gut?
Das ist mir ein Rätsel. Ich vermute, weil es eine einprägsame erste Zeile hat. Diese Zeile ist ein Signal. Die vergisst man nicht. Und sie hat diesen wiegenden pastoralen Rhythmus. Den findet man auch bei Bach, Händel oder Corelli. Das klingt schon mal nach Weihnachten.
Auch die Tonverbindungen – fünfte und sechste Stufe der Tonleiter – sind immer besonders ausdrucksvoll. Das geht offenbar unter die Haut.
«Stille Nacht» passte aber auch gut in seine Zeit. Mit der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie im 19. Jahrhundert entstand auch der Wunsch nach häuslicher Idylle: die häusliche Weihnacht mit zwei, drei, vier Kindern. «Stille Nacht» ist die Musik dazu.
Joseph Moor, der Verfasser des Texts, war zölibatär, also nicht gerade ein Familienmensch.
Moor hatte auch nie mit Frauen zu tun. Er kam aus einer zerbrochenen Familie, ein Kleriker war sein Ersatzvater. Im Lied selbst kommen nur Männer vor. Es entspricht nicht gerade dem Bild der Kleinfamilie.
Von ‹heile Welt› war nichts zu spüren, als das Lied entstanden ist.
Der einzige Hinweis auf die Familie im Text ist das «hochheilige Paar», das mit dem kleinen Jesuskind bei der Krippe sitzt. Dann stimmt das Bild wieder.
Eigentlich ist es eine traurige Flüchtlingsgeschichte und keine heile Welt.
Von «heile Welt» war auch nichts zu spüren, als das Lied entstanden ist. Oberndorf, wo das Lied herkommt, war mausarm und durchgeschüttelt, wie der Rest von Europa auch, von den Wirren der Napoleonischen Kriege und der anschliessenden Neuorganisation.
Eigentlich ein sehr positives Lied vor dem Hintergrund einer damals ziemlich schlimmen Weltsituation.
Der Wunsch nach Frieden war gross. Das hört man an ehesten in den weggefallenen Strophen, wo die Rede ist von den Völkern der Welt, für die das Heil anbricht.
Welche weggefallenen Strophen?
Man hat von den ursprünglich sechs Strophen in fast allen Kirchengesangsbüchern nur drei übernommen. Die drei Strophen, die vom trauten Paar und ihrem Kinde erzählen und den Engeln, die Halleluja singen.
Weggelassen hat man die drei Strophen, die theologisch aufgeladen sind: Der Wunsch nach Frieden oder die Annahme, dass Gott von Anfang an, in der urgrauen Vorzeit, das Heil der Welt beschlossen hat.
Eigentlich ein sehr positives Lied vor dem Hintergrund einer damals ziemlich schlimmen Weltsituation.
Das Gespräch führte Maya Brändli.