Gross waren vor 30 Jahren die Hoffnungen, als das World Wide Web entstand: Das neue Medium zum Informationsaustausch werde zu mehr Demokratie und weniger Ungleichheit führen, hiess es.
SRF-Digitalredaktor Jürg Tschirren erläutert, was aus der Hoffnung geworden ist.
SRF: So optimistisch wie vor 30 Jahren redet heute kaum jemand über das Internet. Warum?
Jürg Tschirren: Das hat damit zu tun, dass das Netz heute für die grosse Masse da ist – nicht nur für eine Nische von Enthusiasten. Damit kam es zu einer Kommerzialisierung der Online-Welt.
Es gibt gute Gründe, darin Probleme zu sehen. Aber ohne diesen kommerziellen Hintergrund wäre das Internet nie in dem Masse und in der Geschwindigkeit ausgebaut worden, wie wir es in den letzten Jahrzehnten erlebt haben.
Das Internet setzt Machtstrukturen nicht ausser Kraft, sondern bildet sie ab.
Die grossen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich viele vom Internet erhofft haben, sind aber nicht eingetreten.
Man hat zu viel vom Internet erwartet. Das Internet setzt nicht einfach Machtstrukturen ausser Kraft, die in der realen Welt existieren. Sondern es bildet diese Strukturen zu einem gewissen Teil auch ab.
Aber gerade die oft gescholtenen sozialen Medien geben unterdrückten Stimmen in die Möglichkeit, sich zusammenzuschliessen, sich zu organisieren und sich Gehör zu verschaffen. Das hat man etwa während des Arabischen Frühlings gesehen: Hier haben soziale Medien eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der politischen Debatte gespielt.
Auch die Regierungen können sich sozialen Medien bedienen, etwa um Aufständische zu überwachen. Bei allen positiven Effekten ist das Ganze eben doch ein zweischneidiges Schwert.
Was ist heute das drängendste Problem?
Für viele ist es die gezielte Desinformation im Netz, Stichwort Fake News. Wobei noch nicht klar ist, welche Auswirkung Fake News auf den politischen Prozess haben. Aussagekräftige Studienergebnisse kenne ich nicht.
Ein weiteres Problem sind die Daten, die im Internet über uns gesammelt werden. Vor allem mit dem Zweck, zielgenaue Werbung anzeigen zu können.
Diese Daten führen wegen Netzwerk-Effekten zur Entstehung grosser, fast monopolartiger Unternehmen, denn: Wer mehr Daten über seine Benutzer hat, weiss mehr über deren Bedürfnisse. Folglich kann er die eigenen Dienste verbessern und gewinnt dadurch noch mehr Benutzer. Ein Kreislauf, der gerade jungen, kleinen Unternehmen oft keine Chance lässt.
Ein grosser Kritiker des Internets ist dessen Mit-Erfinder Tim Berners-Lee. Hat er eine Idee, wie man das Ganze besser gestalten könnte?
Tim Berners-Lee arbeitet an einem Projekt namens «Solid». Darin geht es um die Dezentralisierung des World Wide Web, oder zumindest um die Daten, die dort gesammelt werden.
Es geht ihm darum, dass die Daten der User nicht mehr bei grossen Firmen gesammelt werden. Sondern auf einer dezentralisierten, vom Benutzer selbst kontrollierten Plattform.
Wie schätzen Sie diese Idee ein?
Sie ist interessant. Sie wäre besser als der Zustand, den wir heute haben. Aber sie ist nicht die Lösung aller Probleme. Vor allem stellt sich die Frage, ob sie sich durchsetzen lässt.
Eine Lösung liegt weniger darin, die eigenen Daten zu besitzen, als genaue gesetzliche Vorgaben darüber zu bestimmen, welche Daten gesammelt werden dürfen und was mit diesen gemacht werden darf.
Die neue europäische Datenschutzgrundverordnung geht in diese Richtung. Aber sie zeigt auch, wie schwer es ist, solche Ideen in der Praxis durchzusetzen.
Das Gespräch führte Sarah Herwig.