Markus Kenners Augen funkeln, wenn er vom «heissen» Sommer 1980 erzählt. Noch heute träumt der Archivar von den aufreibenden Ereignissen, die damals Zürich erfassen – und sukzessive das ganze Land.
Kein Platz zur Entfaltung
Als junger Mann gehört er zu den Aktivisten, die ein alternatives Kulturzentrum in der stillgelegten Roten Fabrik fordern. Dazu hat das Stimmvolk zwar längst Ja gesagt, aber nichts passiert – genauso wenig wie beim Autonomen Jugendzentrum (AJZ), das bereits von der 68er-Generation gefordert wurde.
Die Jugendlichen fühlen sich bestätigt: Der Stadtrat interessiert sich nicht für ihre Bedürfnisse. In einer Gesellschaft, die sie als bieder und beengend wahrnehmen, finden sie keinen Platz zur Entfaltung. «Die Not war gross!», hebt Markus Kenner hervor.
«Get Up, Stand Up» vor dem Opernhaus
Als dann die Zürcher Regierung auch noch einen Kredit für den Umbau des Opernhauses empfiehlt, reicht es den Vernachlässigten. 60 Millionen Franken für die Hoch- und keinen Rappen für die Jugendkultur? Dagegen demonstrieren sie am 30. Mai – friedlich, bis die Polizei in Vollmontur aus dem Opernhaus stürmt.
Die Situation eskaliert. Zumal zahlreiche Besucherinnen und Besucher nach einem Bob-Marley-Konzert aus dem Hallenstadion in die Innenstadt strömen, vielleicht auch inspiriert durch die Zugabe: «Get Up, Stand Up».
Die Stadt wird zum Dampfkochtopf
Am nächsten Abend wiederholen sich die Ereignisse. Zürich verwandelt sich in einen «Dampfkochtopf, bei dem das Ventil weg war», so Markus Kenner.
Die saturierte Gesellschaft ist schockiert: Man hat doch alles, gerne auch im Überfluss. Was kann da noch fehlen? Und dann rebelliert die bis anhin angepasst scheinende Jugend auf der Strasse, verlangt Freiräume und strebt nach Selbstverwirklichung ausserhalb von Konsum, Kommerz und Karriere.
Freie Sicht aufs Mittelmeer!
Auch wenn eine autoritäts- und konsumkritische Haltung seit «68» bekannt ist, stellen die «80er» ein neues Phänomen dar: Sie agieren weniger politisch und theorielastig, sondern kreativ, spontan, wild.
«Wir betonten das spielerische, lustvolle und ironische Element», erklärt Elinor Burgauer. Bei den Bewegten erster Stunde zeigt sich dies in der Gestaltung von Flugblättern, bei anderen im Malen von Transparenten.
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Bild 1 von 8. Mit diesem Flugblatt luden Bewegte um Markus Kenner zu einem Protestfest in der Roten Fabrik – Monate, bevor sie im Oktober 1980 das stillgelegte Industrieareal als Kulturzentrum eröffnen durften. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 2 von 8. Die «Einladung» zu einer Demonstration am 30. Mai 1980 in Zürich, die schweizweit für Aufruhr sorgen wird: Sie artet zu den «Opernhaus-Krawallen» aus. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 3 von 8. «AJZ jetzt!» – Die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum war für die Jugendbewegung zentral. Sie ging nur vorübergehend in Erfüllung (zwischen Juni 1980 und März ’82) – und auch dies bloss mit Unterbrüchen. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 4 von 8. Die Jugendlichen fühlten sich im eisigen Klima einer konservativen Gesellschaft gefangen. Deshalb bezeichneten sie Zürich als «Grönland» und hofften auf eine «Packeisschmelze»: eine Öffnung der Stadt hin zu mehr Toleranz. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 5 von 8. Ein Film aus der Jugendbewegung über und für die Jugendbewegung: Er wird nach seiner Premiere am 1. November 1980 in der Roten Fabrik Kultstatus erlangen und ein Jahr später an den Solothurner Filmtagen gezeigt. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 6 von 8. Die Flugblätter wiesen oft Bilder von Fotografinnen auf, die der «Bewegung» nahestanden oder Teil von ihr waren – wie Olivia Heussler. Von ihr stammt hier die Aufnahme der Polizisten, die einen Demonstranten ans Geländer drängen. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 7 von 8. Mit (bitterbösem) Humor gegen die Zürcher Behörden: Die Stadtratsmitglieder Sigmund Widmer (Präsident), Emilie Lieberherr (Vorsteherin des Sozialdepartements) und Hans Frick (Polizeichef) gehörten genauso zu den Feindbildern wie Regierungsrat Alfred Gilgen (Erziehungsdirektor). Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
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Bild 8 von 8. Die letzte (Gross-)Demo nach der endgültigen Schliessung des AJZ: Verzweiflung, Trauer und Wut begleiteten die jungen Menschen, als sie ihren Sehnsuchts- und Zufluchtsort nach knapp zwei Jahren wieder verloren hatten. Bildquelle: Silvan Lerch, Peter K. Bichsel: Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979–82, Limmat Verlag 2017.
Die damalige Studentin und heutige Psychologin erinnert sich noch gut an originelle Formulierungen wie «In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders» oder «Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer!». Ein Spruch, der sich gar ins kollektive Gedächtnis einbrennen wird.
«Wir drängten darauf, uns auszuleben, auch gestalterisch», ergänzt Olivia Heussler. Sie ist 23, als die Bewegung ausbricht. Fortan wird sie diese dokumentieren – als Fotografin. Und verbindet dadurch Leidenschaft mit Beruf.
Kulturelle Explosion
Inspiriert wird die kulturaffine Bewegung etwa durch Punk und Dadaismus. Und beeinflusst ihrerseits verschiedenste Genres: Musik und Grafik ebenso wie Theater und Film.
Für Christoph Schaub ereignet sich in jener Zeit eine «kulturelle Explosion». Der renommierte Regisseur sieht als 22-Jähriger «Züri brännt»: ein Werk aus der Bewegung über und für die Bewegung. Es erlangt mit seiner so originellen wie radikalen Bild- und Textsprache Kultstatus – und nationale Aufmerksamkeit, als es 1981 an den Solothurner Filmtagen gezeigt wird.
Kulturleichen erwachen zum Leben
Schaub beginnt ebenfalls mit Interventionsvideos. Sie ermöglichen ihm, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen.
Endlich können sie alle ihrer eigenen Stimme Ausdruck verleihen – nicht zuletzt in der Roten Fabrik, die doch noch ein Kulturzentrum werden darf. «Auf Druck der Strasse», wie Markus Kenner unterstreicht.
Hat sie das «stiere» Zürich zuvor (beinahe) «frieren» lassen, erwachen die selbsternannten Kulturleichen nun zum Leben.
Gewalt und Gegengewalt
Entsprechend vehement verläuft der Konflikt ums AJZ. Zwar erhalten es die Jugendlichen im Juni 1980. Doch die Behörden dulden keine Autonomie. Eröffnung und Schliessung, Wiederbesetzung und Räumung wechseln sich ab.
Eine Spirale setzt ein: Die Polizei versucht die Proteste zu ersticken. Setzt auf Tränengas, Gummischrot, Prügel und Verhaftungen. Diese Repression schüchtert ein, steigert aber auch Verzweiflung und Wut – und führt teils zu Militanz: Sachbeschädigungen und Plünderungen. Das gegenseitige Unverständnis ist wortwörtlich gewaltig.
Ab- und Aufbruch
Im März 1982 wird das ehemalige Fabrikgebäude abgerissen. «D’Bewegig» endet – und doch nicht. Denn sie stösst nachhaltige Veränderungen an.
Die Unruhen führen zu einem Umdenken. Zürich wird toleranter – und mit ihm ein ganzes Land. Dank Bewegungen, die sich etwa in Basel, Bern oder Lausanne bilden.
Auf die Spitze getrieben
Heute, 40 Jahre später, möchte kaum jemand die errungenen inneren und äusseren Freiräume missen. Viele schätzen das pulsierende Leben und Leben-Lassen, auch wenn der Hedonismus unserer Gegenwart mit seiner 24-Stunden-Spassgesellschaft mitunter auf die Spitze treibt, was damals erst erkämpft werden musste und hiess: «Wir wollen alles und zwar subito.»