Inbegriff des gemeinschaftlichen Wohnens: frühe Metron-Siedlungen im Kanton Aargau
Bauliche Massnahmen bestimmen das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner. Davon waren zwei Architekten, ein Raumplaner und ein Soziologe überzeugt, als sie 1965 die Metron AG gründeten.
Sie tüftelten an einfamilienhausähnlichen Wohnsituationen, in welcher die Ökonomie den Ton angab: Der Landverbrauch war klein und der «gepflegte Rohbau» senkte die Kosten. Gleichzeitig waren Lösungen gefragt, die das Gemeinschaftliche begünstigten.
Auf die Frage «Wie lebt der Mensch in der Zukunft?» hatte Metron in den 1970er-Jahren gebaute Antworten parat: zum Beispiel die Reuss-Siedlung in Unterwindisch mit vier respektive sechs Häusern in zwei Reihen.
Die Bewohnerinnen und Bewohner – Lehrer, Sozialarbeiterinnen, Architekten, Beamte – beteiligten sich am Planungsprozess und legten zum Beispiel tatkräftig Hand an beim Pflastern der Wege.
Einschätzung von Architekturexperte Andreas Hofer:
«Die frühen Metron-Siedlungen sind ein Zwischending zwischen Stadt und Land. Ein Teil Stadtflucht und bäuerliche Romantik, ein Teil linker, urbaner Diskurs. Sie sind Ausdruck dafür, dass die bürgerliche Enge und die Fixierung auf die nach Wohlstand strebende Kleinfamilie nicht für alle das Ziel ist.
Architektonisch interessant ist die Entdeckung des Vernakulären, das heisst des am Ort Gewachsenen, und die Referenz auf die Industrie- und Arbeiterkultur.»
Gescheitertes Wohnexperiment: Wohlgroth in Zürich
Wohnen, Arbeiten und Kultur unter einem Dach vereinen, neue Formen des Zusammenlebens suchen und dabei dem kommerziellen Diktat Paroli bieten – das waren im Nachgang der Zürcher Jugendunruhen in den 1980er-Jahren zentrale Themen.
Die Umsetzung dieser Visionen begann im Mai 1991 mit der Besetzung der Wohlgroth-Fabrik beim Zürcher Hauptbahnhof. Sinnstiftend prangte das farbenfrohe Graffiti «Alles wird gut» bestens sichtbar an einer Hauswand und begrüsste täglich tausende Pendler.
In drei leeren Fabrikgebäuden und zwei Wohnhäusern wohnten bis zu 120 Menschen. Eine Volksküche, Velowerkstatt, Bibliothek, Frauennotschlafstelle, Konzert- und Kulturräume hatten hier Platz.
Das Angebot der damaligen Stadträtin Ursula Koch und des Oerlikon-Bührle-Direktors Hans Widmer, ein leeres Gebäude in Seebach zu beziehen, lehnten die Besetzer ab. Seebach im Norden der Stadt sei zu abgelegen, und es gäbe keine Wohnmöglichkeiten – so begründeten die Besetzerinnen und Besetzer ihr Nein.
Nach zweieinhalb Jahren wurde das soziale (Wohn-)Experiment in Zürich beendet: Am 23. November 1993 räumte die Polizei die grösste Hausbesetzung der Schweiz.
Andreas Hofer: «In der Wohlgroth gab es zum ersten Mal die Zürcher Mischung aus Kultur, Gastronomie, Wohnen, offenen Räumen und Aneignung. Dass Oerlikon-Bührle in Zürich Nord einen Ersatzstandort anbot, war ein – frühes – Zeichen für die spätere Entwicklung der Stadt. Die Wohlgroth ist die Mutter von Projekten in der Binz, dem Labitzke- und Koch-Areal.
Ich erkenne aber auch andere Kontinuitäten: Mit der Wohlgroth kam ein kritischer Stadtdiskurs in Gang. In der Folge entstanden Projekte wie Karthago oder ‹Kraftwerk 1›, die den Schritt in gefestigte Strukturen wagten. Aus Hausbesetzern wurden Hausbesitzer.»
Grösste selbstverwaltete Siedlung der Schweiz: «Giesserei» in Winterthur
Gesucht: Paare, Einzelpersonen und Familien, die an sozialen Interaktionen und Gemeinschaft interessiert sind. 2013, das heisst sieben Jahre nach diesem Aufruf, unzähligen Sitzungen und tausenden Stunden Freiwilligenarbeit, konnte die Genossenschaft für Selbstverwaltetes Wohnen GESEWO die grösste selbstverwaltete Siedlung der Schweiz eröffnen. Sie stand an peripherer Lage auf dem ehemaligen Industrieareal in Neu-Hegi/Winterthur.
Nach und nach wurde der riesige, sechsstöckige Holzbau der Galli Rudolf Architekten bezogen. In den 151 Wohnungen – die kleinste misst 48 Quadratmeter, die grösste 370 Quadratmeter – wohnen heute über 340 Menschen.
Für die Mieterinnen und Mieter gibt es Gemeinschaftsräume, Jokerzimmer für Gäste, eine Pantoffelbar und einen Übungsraum, der kostenlos reserviert werden kann. Wichtiges Vermietungskriterium ist das Alter, denn die Durchmischung soll der gesamtschweizerischen Altersverteilung entsprechen.
Die Selbstverwaltung hat ihren Preis: Alle verpflichten sich zu 36 Stunden Mitarbeit pro Jahr. Im ökologischen Mehrgenerationenhaus wird oben gewohnt, im Sockelbereich gibt’s unter anderem ein Fahrradgeschäft, eine Beiz, ein Tageszentrum für Hirnverletzte, eine Gemeinschaftspraxis.
Andreas Hofer: «1992 hat die GESEWO mit der Sagi Hegi ihr erstes Neubauprojekt realisiert. Die Giesserei war ein Quantensprung in Dimension, Komplexität und Qualität. Das Modell der Hausgemeinschaft in eine Grosssiedlung zu übertragen, war eine enorme Herausforderung.
Die Giesserei beweist zwar, dass neue Wohnformen und ein ökologischer Lebensstil überall eine Nachfrage findet und somit in der Breite der Gesellschaft angekommen ist.
Allerdings stösst das Projekt auch an Grenzen: Die komplexen Formen der Mitbestimmung führten zu Konflikten und die Gewerbeflächen, insbesondere die Gastronomie, bleiben eine Herausforderung. Aufgrund der peripheren Lage bleibt eine gewisse Isolation und Künstlichkeit. Umso höher ist die Leistung der GESEWO einzuschätzen, diesen Ort zu entwickeln.»
Glück ist planbar: Überbauung Zwicky-Süd in Dübendorf
Das Glück ist planbar – auch auf einem unwirtlichen, zwischen Bahn und Autobahn eingekeilten Areal. Mit dieser Überzeugung bauten die Immobilien-Unternehmen Regimo und Senn sowie die Zürcher Genossenschaft «Kraftwerk 1» auf der Grenze zwischen Zürich, Wallisellen und Dübendorf ein neues Stück Stadt: Zwicky-Süd.
Diese Stadt, die die Projekt-Verfasser Schneider Studer Primas «Mothers of Invention» nennen, besteht aus vier schlanken, scheibenartigen Häusern und zwei massigen Blocks.
In der Siedlung Zwicky-Süd wird im Sockelgeschoss hauptsächlich gearbeitet. Fürs Wohnen gibt’s neben den genossenschaftlichen, preisgünstigen Wohnungen überraschende Räume, wie die WG mit zehn Zimmern, die über einen Steg mit einer anderen WG verbunden ist. 2016 wurde Zwicky-Süd bezogen.
Andreas Hofer: «Die Wohnungstypologien in Zwicky-Süd konjugieren alles durch, was im innovativen Wohnungsbau in den letzten Jahren versucht wurde.
Die Genossenschaft erschliesst mit Zwicky-Süd ein neues Zielpublikum in der Agglo. Die günstigen Baukosten erlauben Mieten, die auch für Menschen bezahlbar sind, die sonst kaum Chancen haben auf dem Wohnungsmarkt. Die Zusammenarbeit mit sozialen Institutionen schafft Wohn- und teilweise Arbeitsraum für Menschen mit Beeinträchtigungen und Geflüchtete.
Zwicky-Süd ist zwar ein radikales Experiment, aber kein Hipster-Projekt im Szenequartier, da es hier um gesellschaftliche Normalität geht. Die ersten Erfahrungen stimmen positiv. Das Experiment könnte gelingen.»
Vielfalt statt Geklotze: Erlenmatt Ost in Basel
Ein Quartier mit Kleinteiligkeit und Partizipation nachhaltig vitalisieren – das ist die Idee, welche die Stiftung Habitat auf dem ehemaligen Gelände der Deutschen Bahn in Basel verfolgt.
Statt – wie auf der Westseite des Erlenmatt-Parks – mit der grossen Kelle anzurichten, hat die Stiftung das «Atelier 5» aus Bern beauftragt, für das Areal auf der Ostseite eine Art Masterplan zu entwickeln. Das Areal wurde in 13 Baufelder aufgeteilt, dazu gibt es ein Regelwerk. Die 13 Baufelder werden von verschiedenen Architekten bearbeitet.
Das erste Haus wurde geplant von Galli Rudolf Architekten und umgesetzt mit der Stiftung Habitat als Bauherrschaft. Es wurde im Mai 2017 von «abilia» bezogen. «abilia» bietet Wohn- und Beschäftigungsangebote für behinderte Menschen an.
Ende 2017 hatte die Genossenschaft «Zimmerfrei» ein weiteres Bauprojekt fertiggestellt: die «StadtErle». Hier sind Themen wie Gemeinschaft und Suffizienz gross geschrieben. Bis auf die 12,5-Zimmer-Wohnung für mindestens acht Personen sind alle 35 Wohnungen vermietet.
Weitere Projekte für Erlenmatt Ost sind in der Pipeline.
Andreas Hofer: «Mit den ersten Bauetappen auf der Westseite des Erlenmatt-Parks in Basel gelang es trotz hohen architektonischen und ökologischen Ansprüchen nicht, ein lebendiges Quartier zu erzeugen. Mit dem Vorgehen der Stiftung Habitat ändert sich das vielleicht.
Im Gegensatz zu den Zürcher Genossenschaftsprojekten wird hier bewusst auf eine ‹orchestrierte Vielfalt› mit mehreren Bauträgerschaften gesetzt. Das ermöglicht Gruppen, die alleine kaum zu Bauland gekommen wären, ihre Ideen eines gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens umzusetzen.
Die ersten realisierten Projekte stimmen aufgrund ihrer konzeptionellen Breite und ihrer architektonischen Qualität hoffnungsvoll, dass sich hier ein Quartier mit hoher Lebensqualität für alle Bevölkerungsschichten entwickeln kann.»