Ein Mönch am Tor. Er schwingt seinen Hammer und nagelt seine 95 Thesen fest. Der Moment des Thesenanschlags: Er eignet sich dramaturgisch geradezu perfekt. Eine Hammer-Szene, die in keinem Lutherfilm fehlen darf.
Die Szene verkörpert die aggressive Tatkraft des Augustinermönchs Martin Luther. Der Thesenanschlag gehört zur Geburtsstunde der Reformation einfach dazu. Er ist die Initialzündung lutherischer Kritik an römischer Theologie. Auch wenn sich Historiker darüber streiten, ob sich die Szene je so abspielte.
Schlagende Kritik an kirchlichem Seelenverkauf
Konkret nimmt Luther in den 95 angeschlagenen Thesen den Ablasshandel auseinander. Damals finanzierte sich Rom seinen Petersdom wortwörtlich mit den Sünden der Menschen in Europa: «Wenn die Münze in den Kasten klingt, die Seele in den Himmel schwingt!» Mit diesem Slogan tourte der kirchliche Marketing-Spezialist Johann Tetzel durch die Lande.
Der Dominikanermönch brachte so auch noch die ärmsten Christenmenschen dazu, ihre Sünden gegen Barzahlung von der Kirche tilgen zu lassen. Stopp, sagte Martin Luther: Die Gnade ist gratis! Wer glaubt und reut, mit dem versöhnt sich Gott. Zahlen muss man dafür nichts.
Das glauben Katholiken heute übrigens genauso. 1517 war es aber eine Ungeheuerlichkeit, wie sich der mitteldeutsche Mönchsbruder Martin gegen den Machtapparat seiner Kirche wehrte. Mit einem Hammerschlag löste er eine Weltrevolution aus.
So gut das Bild, so skeptisch die Bewertung
Zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntmachung an der Wittenberger Kirchentüre gingen die Thesen in den Druck. Hundertfach vervielfältigt gingen sie an mächtige Fürsten, Bischöfe und wache Bürger in ganz Europa.
Heute würden wir das einen erfolgreichen «Post» mit Millionen «Views» nennen. Luther gelang das damals dank der neuen Drucktechniken Gutenbergs und Co. Aber: Hatte Luther auch selbst zu Hammer und Nagel gegriffen?
Tatsächlich gibt es für den Thesenanschlag wenig zeitnahe Belege. Lediglich der grosse Humanist und Reformator Philip Melanchthon schrieb darüber. Er hatte das Ereignis allerdings nicht selbst erlebt, da er erst Jahre später nach Wittenberg kam.
Ein Katholik dekonstruiert den Mythos
Ausgerechnet ein katholischer Kirchenhistoriker namens Erwin Iserloh schickte sich 1961 an, die schöne Momentaufnahme vom Thesenanschlag zu dekonstruieren.
Entrüstung in der protestantischen Welt war die Folge. Aber dann tauchte 2007 in der Uni-Bibliothek Jena ein Papier auf, das den Hammerschlag-Mythos rettet: Eine handschriftliche Notiz des Luther-Sekretärs Georg Röder, in dem er vom Thesenanschlag an der Kirchentür berichtet.
Die Fachwelt drückt ein Auge zu
Da wurde in Wittenberg gleich ein ganzer Fachkongress zum Thema abgehalten. Die Publikation der Tagung bleibt herrlich diplomatisch. Sie titelt: «Luthers Thesenanschlag – Faktum und Fiktion». Ja, was nun?
Freilich wollen alle, dass es stimmt. Der Moment des Thesenanschlags gehört zur Reformationsgeschichtsschreibung wie kaum ein anderer. Gleichzeitig ist er nun mal eben nicht letztgültig belegbar. Wer glauben will, der glaube!