SRF: Luther glaubte an Hexen und an den Teufel. Er beschimpfte die Vernunft, hasste Juden und war intolerant gegenüber Anders- und Ungläubigen. Verdient er es überhaupt, gefeiert zu werden?
Margot Käßmann: Wir haben nicht Martin Luther gefeiert. Das war kein Heldengedenkjahr! Stattdessen haben wir uns mit Luthers Antijudaismus befasst und uns als Evangelische Kirche in Deutschland klar davon distanziert.
Luther hatte Schattenseiten. Das wusste er aber selbst. Jeder Mensch ist Gerechter und Sünder zugleich, hat er gesagt. Und doch: Luther hat Prozesse angestossen, die bis heute in Theologie, Kirche und Gesellschaft wirken.
Was ist für Sie persönlich das Wichtigste, das Luther uns hinterlassen hat?
Luthers Ringen um den Glauben. Mich fasziniert, wie er beispielsweise in der Römerbriefvorlesung Vers für Vers analysiert und zur Erkenntnis kommt: Aus Glauben leben wir.
Die Kirche kann gar keine Sündenstrafen durch Geldzahlung verkürzen. Er wird so standhaft, weil er gut geklärt hat, wozu er stehen kann.
Inwiefern hat er uns als Gesellschaft verändert?
Unsere Gesellschaft ist geprägt durch die Überzeugung: In Fragen des Glaubens und des Gewissens ist jeder Mensch frei.
So entstehen langfristig mit der Aufklärung – und durchaus auch gegen die Institution Kirche – die individuellen Freiheitsrechte der Demokratie: Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit.
Was sind weitere wichtige Errungenschaften der Reformation?
Mich überzeugt das Kastenwesen. Almosen gibt der Christenmensch jetzt nicht mehr, um seinen eigenen Status zu verbessern, sondern aus Solidarität.
Der Kasten wird demokratisch verwaltet. Wer für sich selbst sorgen kann, soll das tun. Wer das nicht kann, für den sorgt die Gemeinschaft.
Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt. Mit welchen Folgen?
Zum einen entsteht so erst die deutsche Sprache. Ich bewundere zudem diese Übersetzungsleistung – die Kreativität, Begriffe wie «Lückenbüsser» oder «Geizhals» überhaupt erst zu erfinden.
Es wird aber auch die Macht des Klerus gebrochen: Wenn alle verstehen können, worum es geht, können auch alle mitreden. Beteiligung wird möglich.
Dazu braucht es Bildung für alle.
Luther hat von den Fürsten gefordert, Schulen für jeden Jungen und jedes Mädchen zu gründen. Das ist wichtig, damit sie selbst nachlesen und ihr Gewissen an der Bibel schärfen können.
Langfristig ist es eben auch gebildeter Glaube, der Fundamentalismus etwas entgegenzusetzen hat: selber denken!
Ulrich Zwingli leitete 1519 in Zürich eine eigene Reformation ein. Wo ging er über Luther hinaus?
Zwingli war radikaler in der Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche. Das Abendmahl ist nur noch als Zeichen – symbolisch – zu sehen. Es gibt auch keinen Altar mehr. Bilder werden aus der Kirche verbannt. Alles ist ganz und gar auf das Wort konzentriert.
Johannes Calvin wollte Genf 1541 zu einem reformierten Rom umgestalten, mit strenger Sitte und Arbeitsmoral. Inwiefern ist unser heutiges Arbeitsethos durch die Reformation geprägt?
Die Berufsethik ist den Reformatoren gemeinsam. Jeder Mensch hat einen Beruf, eine Berufung. Calvin allerdings lehnt sinnliche Lebensfreuden vollkommen ab. Anders als Luther.
Wo sehen wir den Einfluss der Reformation gegenwärtig am stärksten?
Ich denke an die Stimmenvielfalt. Jeder und jede darf sich beteiligen, selbst denken. Frauen können alle Ämter übernehmen, eine Konsequenz der Tauftheologie. Zudem wird die evangelische Kirche von Ordinierten und Laien gleichermassen geleitet, denn Geistliche haben keinen Weihestatus.
Das Gespräch führte Yves Bossart.