Dass wir heute frei über Politik diskutieren und mitentscheiden, verdanken wir auch der Stadt Zürich. Denn dadurch, dass diese am 29. Januar 1523 die erste Zürcher Disputation einberief, wurden Reformideen nicht länger von Rom «abgekanzelt». Seither werden sie ernsthaft diskutiert. Und am Schluss wird abgestimmt und umgesetzt.
Nach der Disputation führte der Rat der Stadt Zürich die Lehre Zwinglis ein. Es war die Geburtsstunde der modernen Debattenkultur. Nicht mehr die römische Kirchentradition sollte über Recht und Ordnung entscheiden. Vielmehr sollten die Bürger ihre Entscheide ab jetzt anhand der Bibel fällen.
«Wer lesen kann, wer die Ideen verstehen kann, ist nun Teil des öffentlichen Debattierens», erklärt der Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch dazu, der im Vorstand des Zwingli-Vereins ist.
Reformation war ein langer Prozess
Transformation geht jedoch nicht von heute auf morgen. Auch vor 500 Jahren nicht. Die Medienrevolution mit Buchdruck und Flugschriften erhöhte zwar deren Tempo. Aber die Mehrheit der Leseunkundigen blieb zunächst einmal davon ausgeschlossen, an Streitgesprächen teilzunehmen.
Frauen durften nicht mitreden, abgesehen von wenigen prominenten Ausnahmen wie etwa der mächtigen Äbtissin von Zimmern. Bald kam auch ein Redeverbot für Andersdenkende dazu: Die späteren «Täufer» wurden an Disputationen abgestraft und dann verfolgt. Und das, obwohl sie die biblisch stichhaltigeren Argumente hatten.
Trotz dieser Defizite gilt die erste Zürcher Disputation als eine Geburtsstunde demokratischen Debattierens in der Neuzeit. Sie war ein Streitgespräch, das mehr auf Argumenten als auf Macht beruhte. Zudem führte sie zu mehr Selbstbestimmung. Schliesslich setzte sich damals der Rat gegen den Bischof durch, also der Staat gegen die Kirche.
Die Mutter aller Debatten?
«Hier wurde eine Form der öffentlichen Debatte gefunden, die eine Gesellschaft in die Lage versetzt, argumentativ klare Entscheide und Kompromisse zu entwickeln», meint der Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch dazu.
Nach Zürcher Vorbild fanden in den Folgejahren an weiteren Orten der heutigen Schweiz und Deutschlands Disputationen statt. Auch dort führten sie meist zur Durchsetzung reformatorischer Ideen. Martin Rüsch nennt sie einen «Exportschlager».
Nacheinander wurden Messe, Heiligenbilder und schliesslich auch der Pflichtzölibat für Priester abgeschafft. Zwingli fragte nicht mehr in Rom um Erlaubnis. 1524 schloss er die Ehe und vollzog damit einen reformatorischen Akt.
Wenn Zwingli zünftig zürchert
Zum 500-Jahr-Jubiläum zeigt das Zürcher Grossmünster nun eine Ausstellung zu dem kirchenhistorischen Ereignis. Sie präsentiert Bücherschätze aus der Reformationszeit und bringt sie dabei auch zum Klingen.
Der Disput um Priesterehe oder Pflichtzölibat etwa ist hier in urchigem Zwinglideutsch zu hören, unterhaltsam dargeboten von Schauspieler Samuel Streiff. Denn es gehe hier auch nicht allein um Geschichte, erklärt Grossmünsterpfarrer Rüsch.
Debattenkultur verzweifelt gesucht
Der Pfarrer findet, dass es uns heute an guter Debattenkultur fehle. Und zwar nicht nur auf Social Media, sondern auch in seiner eigenen reformierten Kirche.
Zum Jubiläum laden deshalb die reformierten Altstadtkirchen Zürichs zum gemeinsamen Disputieren an Tischen in die Wasserkirche ein, zu Brot, Wein und Wasser.