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70 Jahre Grundgesetz Das Buch, das immer Recht hat

Am 23. Mai wird die Bundesrepublik 70 Jahre alt – und mit ihr die deutsche Verfassung. Recht und Gesetz spielen für die Deutschen eine besondere Rolle. Gedanken von Deutschland-Korrespondent Peter Voegeli.

Am Anfang war das Unrecht. Die Nationalsozialisten pervertierten das Recht und ertränkten es in einem Meer von Blut.

Die Verfassung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland, das sogenannte Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, trug dieser Erfahrung Rechnung. Gewisse Grundrechte sind unveränderlich und auch nicht mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit zu ändern.

Zudem entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine vorbildliche Aufarbeitung der begangenen Verbrechen, die «zum Besten gehört, was die alte Bundesrepublik bis 1989 hervorgebracht hat», wie es der Historiker Norbert Frei im Gespräch formulierte.

«Wo steht das geschrieben?»

Der Glaube an Recht und Ordnung, dass alles seinen richtigen bürokratischen Lauf zu nehmen hat, gehört zum Kern des deutschen Selbstverständnisses. Wenn die Regel manchmal fast schon wichtiger als der Inhalt wird, gerät er zum Fetisch.

«Die Deutschen fragen immer: Wo steht das geschrieben? Während die Schweizer fragen: Was ist die Lösung?» So lautet ein Schweizer Bonmot, das auch zeigt, dass wir Schweizer uns auch nicht gerade durch mangelndes Selbstbewusstsein auszeichnen.

Typisch deutsch!

Aber es belegt auch einen grundlegenden Mentalitätsunterschied: Anders als in Deutschland kann das Schweizer Bundesgericht verfassungswidrige Gesetze nicht verbieten. Bei uns hat im Grundsatz das Parlament das letzte Wort – in Deutschland das Gericht.

Als sich die deutsche Politik in den 1990er-Jahren nicht entscheiden konnte, ob sich die Bundeswehr im Ausland militärisch engagieren sollte, musste das Bundesverfassungsgericht urteilen. Die Tendenz, politische Fragen an Gerichte zu delegieren, ist typisch deutsch.

Eine junge blonde Frau an einer Demo mit einem Plakat, auf dem steht: Grundgesetz ist geil.
Legende: Liebeserklärung, deutsch und deutlich: Konzertbesucher in Chemnitz, September 2018. Keystone / SEBASTIAN WILLNOW

Der britische Historiker Brendan Simms hat das unlängst in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» aus der Geschichte hergeleitet.

«Die Deutschen entwickelten eine politische Kultur» schreibt Simms mit Blick auf die Zeit nach dem Dreissigjährigen Krieg 1648, «die […] auf der rechtlichen Regelung politischer Konflikte basierte. Das Verfahren war wichtiger als das Ergebnis.»

Simms kritisiert aber mit Blick auf heute, dass diese Verrechtlichung der Politik nach deutschem Vorbild die EU lähme.

Wichtig für das seelische Gleichgewicht

Die politische Unruhe, welche die Flüchtlingskrise der letzten Jahre ausgelöst hat, beruht wahrscheinlich weniger auf dem Zustrom so vieler Menschen, den die Bundesrepublik bewältigen kann, als auf dem Gefühl vieler, Recht und Gesetz würden nicht mehr eingehalten.

Deutschland sei «anfällig für eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit», konstatierte der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in der «Welt» und erwähnte als Beispiel die ausufernde Clan-Kriminalität. Oder den Diesel-Skandal, bei dem sich deutsche Autokonzerne jahrelang um europäisches Recht foutiert hatten.

Gerade aber weil Recht und Gesetz für die das seelische Gleichgewicht der Deutschen eine solche Bedeutung hat, ist der 23. Mai, der Tag des Grundgesetzes, ein besonderes wichtiger Tag für Deutschland.

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