Am Sonntag, 19. August 1945, treffen sich auf dem Berner Bundesplatz Tausende von Armeeangehörigen mit der Bevölkerung. Sie feiern das Ende des Aktivdienstes vor der Kamera der Schweizer Filmwochenschau.
Darin wird die Bedeutung der Schweizer Armee betont: «Als Behörden und Presse zu vielem schweigen mussten, konnten wir durch unsere militärische Bereitschaft eine klare Antwort auf alle Einschüchterungsversuche und Drohungen geben.»
General Henri Guisan hat hier seinen letzten Auftritt. Er dankt den Soldaten für ihren Einsatz in der Landesverteidigung und den Frauen, die zu Hause ihren Mann gestanden haben.
Dann verabschiedet er sich mit einer Fahnenehrung und entlässt die Versammelten in den Frieden. Dies im Glauben, die Schweiz sei dank der Armee, dem Reduit und der Neutralität verschont geblieben. Dass auch andere Gründe eine massgebliche Rolle gespielt haben – darüber wird der Mantel des Schweigens ausgebreitet.
Die Zeit des Schweigens nach dem Krieg
In vielen europäischen Staaten beginnt nach dem Krieg eine Zeit des Schweigens. Es zieht sich durch die Politik, aber auch durch die Familien.
«Ich hatte von klein auf gewusst, dass meine Mutter anders war als andere Mütter. Sie hatte eine Tätowierung auf dem Arm, und sie reagierte stets feindselig auf Deutsche und auf Gespräche über Deutschland.» Diese Erfahrung beschreibt etwa Maya Lasker-Wallfisch in ihrem Buch «Briefe nach Breslau: Meine Geschichte über drei Generationen».
Die Autorin ist die Tochter der in Grossbritannien lebenden Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, einer der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz.
Maya Lasker-Wallfisch wird während ihrer Kindheit und Jugend mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Mutter konfrontiert: «Ich hatte diese fürchterlichen Fotos mit aufgetürmten Leichen in Bergen-Belsen in ihrem Schrank gefunden. Durch die Fotos wusste ich zwar etwas über meine Grosseltern, aber ich wusste nicht recht, was ich wusste.»
Der Beginn der Vergangenheitsaufarbeitung
In vielen Familien wird nach dem Krieg hartnäckig über die nationalsozialistischen Verbrechen geschwiegen, sowohl auf der Seite der Opfer als auch jener der Täter. Die Forderung, sich als Nation mit der jüngsten Vergangenheit zu befassen, wird in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 1980er-Jahren zu einem vordringlichen politischen Thema – dies stellt die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman fest, die seit Langem in Deutschland lebt.
Sie sei bei ihrer Ankunft 1982 mit einem völlig neuen Begriff konfrontiert worden, erzählt Neiman bei der Präsentation ihres neuen Buchs «Von den Deutschen lernen» im Juni dieses Jahres auf der Berliner Volksbühne: «Eines der ersten Worte in meinem neuen Wortschatz war ‹Vergangenheitsaufarbeitung›.»
Dieser Begriff ist nun fast 40 Jahre später in ihrem Buch zentral. Darin dokumentiert Neiman im Rückblick auf die letzten 75 Jahre historische Momente, in denen sich Deutschland besonders intensiv und selbstkritisch mit der jüngsten Geschichte, mit Antisemitismus und Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat.
Susan Neiman tut dies in einem dicken Wälzer von rund 550 Seiten, pointiert, ohne akademisches Geschwurbel. Sie nimmt die Leserinnen und Leser mit auf Reportagen.
Die Autorin führt ebenso leichtfüssig durch die deutsche Provinz wie durch die Südstaaten der USA. Hier wie dort gibt sie Einblick in das Leben von Menschen, die mit der Last der Vergangenheit ringen, sei es als Opfer oder Täter. Sie erzählt deren Geschichte und lässt sie selbst zu Wort kommen.
Meilenstein Eichmann-Prozess
Neben dem eingängigen Storytelling macht Neiman den Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung an historischen Meilensteinen sichtbar. Als wichtiges Ereignis führt sie den Eichmann-Prozess von 1961 an: In Jerusalem steht der ehemalige deutsche SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vor Gericht, der schliesslich wegen millionenfachen Mords zum Tod verurteilt wird.
Dieser Prozess markiert eine Wende. Denn Eichmann habe den Prototyp des «gewöhnlichen» Nazi-Verbrechers dargestellt, sagt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in einem Gespräch auf Radio SRF 2 Kultur. Bei den Nürnberger Prozessen (1945–1949) zuvor waren zunächst nur die sogenannten Hauptkriegsverbrecher vor Gericht gekommen.
Holocaustopfer erhalten erstmals eine Stimme
Beim Eichmann-Prozess treten erstmals zahlreiche Holocaustopfer als Zeuginnen und Zeugen auf. Sie brechen das Schweigen, und ihre Stimmen werden im Fernsehen in die ganze Welt hinausgetragen. Dieser Perspektivenwechsel wird verstärkt durch ein Bewusstsein von Schuld, das später auch die 68er-Generation aufbringen wird.
Immer mehr Söhne und Töchter wollen von ihren Eltern wissen, ob sie Nazis waren und was sie zum Holocaust beigetragen haben. In vielen gutbürgerlichen Wohnzimmern baut sich eine Empörung auf, die manche Familienbande sprengt.
Diese Konfrontation trägt dazu bei, dass jetzt erstmals öffentlich über die Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert werden kann. Mit Erfolg: 1969 hebt der Bundestag die Verjährung bei Völkermord auf.
Bald darauf folgt 1970 der legendäre Staatsbesuch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt in Polen. Auch dies sei ein historischer Meilenstein, hält Neiman fest.
Brandt demonstriert mit einer Geste der Demut ein deutsches Schuldbewusstsein, indem er vor dem Ehrenmal der Toten des Warschauer Ghettos um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bittet und niederkniet – ein Bild, das sich ins historische Gedächtnis der alten wie der jungen Generation einbrennt. Hier wird international augenfällig, dass sich eine Nation selbstkritisch mit ihrer jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen beginnt.
Ein weiterer einschneidender Moment lässt sich 1979 festmachen, als die US-Fernsehserie «Holocaust» über die Bildschirme in den deutschen Wohnzimmern flimmert. Der Schock ist gross. Damit wächst die Einsicht, sich mit der eigenen Geschichte im Nationalsozialismus befassen zu müssen.
Ein Credo, das 1985 auch der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer provokanten Rede aufnimmt. Er spricht von der individuellen Mitschuld vieler Bürgerinnen und Bürger. Und er macht dabei klar, dass Schweigen die falsche Antwort auf Schuld ist und es mehr Empathie für die Opfer des Holocaust braucht.
Dies führt schliesslich zur Frage, welchen Platz die Naziverbrechen im deutschen Geschichtsbild einnehmen sollen – eine Frage, die 1986 den sogenannten Historikerstreit auslöst.
Kritik aus der Geschichtswissenschaft
Eine weitere Station der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte, die Susan Neiman in ihrem Buch «Von den Deutschen lernen» aufführt, ist rund zehn Jahre später die Debatte über die Rolle der deutschen Wehrmacht. Eine Wanderausstellung, die im März 1995 in Hamburg anläuft, listet die Verbrechen der Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 auf. Sie dokumentiert mit 1400 Fotografien deren Gewaltexzesse und sorgt damit für öffentliche Empörung.
Hinzu kommt Kritik aus der Geschichtswissenschaft, welche die Fehler bemängelt. Dies veranlasst die Verantwortlichen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Ausstellung zu schliessen und von einer Kommission überprüfen zu lassen.
Sie kommt zum Schluss, dass es sachliche Fehler gegeben habe, die Grundaussage aber richtig sei: Die deutsche Wehrmacht war an den NS-Kriegsverbrechen massgeblich beteiligt.
Schmerzhafte Konfrontation
Susan Neiman betont, wie wichtig solche Auseinandersetzungen sind. Deutschland habe sich dieser schmerzhaften Konfrontation gestellt.
Die USA könnten sich davon ein Stück abschneiden, denn sie hielten ihre Geschichte der Sklaverei, des Bürgerkriegs und der Rassendiskriminierung bis heute weitgehen unter dem Deckel.
Rassendiskriminierung in den USA
Dass sie ihre alte Heimat kritisch in den Blick nimmt, hat viel mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun, wie sie in ihrem Buch schildert: Susan Neiman wächst in den 1960er-Jahren als Kind jüdischer Eltern in Atlanta im südlichen Bundesstaat Georgia auf. In dieser Stadt ist die Diskriminierung der Schwarzen alltäglich und sickert auch in das eigene Familienleben durch, wie sich in einer Episode ihrer Kindheit zeigt.
Denn obwohl sich ihre Mutter für die Aufhebung der Apartheid in der öffentlichen Schule engagiert, gibt es zu Hause Verbote: An einem heissen Sommertag kommt eine schwarze Freundin der Mutter mit ihren Kindern zu Besuch. Im Lauf des schwülen Nachmittags schlägt Susan vor, gemeinsam schwimmen zu gehen.
Doch ihre Mutter verbietet es kategorisch – für das Mädchen völlig unerwartet. Es versteht die Reaktion ihrer Mutter nicht und bricht einen Streit vom Zaun. Erst später erfährt Susan, dass das gemeinsame Schwimmen von schwarzen und weissen Kindern per Gesetz verboten ist.
Mangelnde Vergangenheitsaufarbeitung in den USA
Für die Recherchen zu ihrem Buch ist Susan Neiman für ein halbes Jahr in die USA zurückgekehrt. Sie ist entsetzt über den alltäglichen Rassismus und die ungebrochene Gewalt gegenüber Schwarzen.
Diese zeigt sie anhand des Attentats in Charleston in South Carolina von 2015 auf: Ein weisser junger Mann erschiesst neun Schwarze, die sich zum Gebet in einer Kirche versammelt haben. Die USA hätten sich bis heute nicht angemessen mit der Geschichte der Rassendiskriminierung auseinandergesetzt, stellt die Autorin fest.
Ihr Buch «Von den Deutschen lernen» richtet sich an ihre frühere Heimat: Wenn es beispielsweise möglich sei, Nazisymbole zu verbieten, müsse es auch möglich sein, die Südstaatenflaggen als Symbole der Sklaverei flächendeckend herunterzuholen, argumentiert sie.
Deutschland gelinge es, mit Forschungen, zahlreichen Ausstellungen, Gedenkstätten und Mahnmalen im ganzen Land das historische Erbe kritisch zu beleuchten und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Auch werde mit Jahrestagen an wichtige Ereignisse im Zusammenhang mit Antisemitismus und Nationalsozialismus erinnert, etwa an die Befreiung von Auschwitz jeweils am 27. Januar.
Neiman fordert historische Aufklärung in den USA
Neiman ist bis heute davon beeindruckt, dass sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten einer kritischen Betrachtung der Geschichte gestellt und viele der damit verbundenen Auseinandersetzungen öffentlich ausgetragen hat. Dies hat ebenso zu Bewusstseinsbildung beigetragen wie es zum Kanon gehört, dass die junge Generation in der Schule über den Holocaust aufgeklärt wird.
Susan Neiman fordert die USA dazu auf, ebenfalls für eine historische Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Dass ihr Buch gerade 2020 erscheint, ist kein Zufall.
Es ist unter dem Eindruck der Präsidentschaft von Donald Trump entstanden, der immer wieder durch rassistische Äusserungen auffällt. Und auf deutscher Seite hat das Erstarken der Rechtspartei Alternative für Deutschland die Philosophin veranlasst, zu untersuchen, wie sich die beiden Staaten an die Vergangenheit erinnern. Denn sie ist überzeugt, die Art und Weise, wie sich eine Nation erinnert, prägt die Gesellschaft der Zukunft.
Wie nachhaltig ist die deutsche Aufklärung?
Wie nachhaltig das deutsche Engagement ist, das Susan Neiman als Vorbild hochhält, lässt sich heute nicht abschliessend sagen. Denn neue Studien stellen fest, dass der Antisemitismus in Deutschland zunimmt.
Immer noch werden Hakenkreuze auf Wandtafeln geschmiert und jüdische Kinder im Klassenzimmer schikaniert, während Lehrpersonen wegschauen. Und der Anschlag auf die Synagoge in Halle von 2019 zeigt, dass die jüdische Bevölkerung auch heute an Leib und Leben bedroht ist.
All dies mag Neimans These in Frage stellen, dass von den Deutschen zu lernen sei. Sie entgegnet solchen Einwänden, dass es in Deutschland auf solche Gewaltexzesse jeweils eine Antwort gibt: Die Bundeskanzlerin verurteilt die Tat scharf, und den Tätern wird der Prozess gemacht.
Die Aufarbeitung der Geschichte während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs ist auch in der Schweiz nicht abgeschlossen. Auch wenn die Unabhängige Expertenkommission «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» zwischen 1997 und 2002 mit Veröffentlichungen der Untersuchungen massgeblich zu einer wissenschaftlich abgestützten Gesamtschau beigetragen hat, sind auch heute noch Fragen offen.
Die Beziehung der Schweiz zu den Alliierten wurde zum Beispiel bisher kaum untersucht. Oder dass auch Schweizer Opfer des NS-Regimes wurden – dazu wird erst seit Kurzem geforscht.
Und wie viele Flüchtlinge von einem Netz von Schweizer Helferinnen und Helfern zusammen mit ausländischen Diplomaten gerettet wurden, ist eine der weiteren Fragen, die erst noch beantwortet werden müssen.