Am Nachmittag des 24. Juli 1938 kam die Erfolgsnachricht aus dem Berner Oberland: Die Eigernordwand war bezwungen. Vier Alpinisten, zwei Deutsche und zwei Österreicher, hatten sie zum ersten Mal durchstiegen.
Propaganda-Coup für Grossdeutschland
Es war ein Coup. Seit Jahren herrschte ein Wettlauf um die letzte grosse Erstdurchsteigung in den Alpen. Für das nationalsozialistische Regime in Deutschland hatte diese Erstbesteigung vor allem Propaganda-Potenzial.
Einen Marschbefehl von Nazideutschland hatte es für die Alpinisten zwar nicht gegeben. Aber als diese es tatsächlich schafften, die Nordwand zu durchsteigen, wusste die Nazi-Propaganda den Moment zu nutzen: Kurz nach dem Anschluss Österreichs, bekam der Erfolg in den Alpen eine grossdeutsche Symbolik.
Helden, keine Toten
Dabei war das Interesse Deutschlands zunächst nicht besonders gross gewesen. Obwohl die Nordwandbesteigungen jeweils regelrechte Live-Dramen waren: Von der Station Eigergletscher in Grindelwald aus konnte man die Alpinisten in der Wand per Fernrohr beobachten, wie sie mehrere Tage und Nächte in der Wand hingen.
Zahlreiche Journalisten waren angereist. Aus Berlin kam jedoch nur einer: Da bereits mehrere deutsche Alpinisten in der Wand umgekommen waren, wollten die Nazis keine Risiken eingehen. Man wollte Helden, keine Toten.
Das änderte sich schlagartig, als sich der Erfolg der deutsch-österreichischen Seilschaft abzeichnete: «Von da an berichtete das Radio immer wieder», sagt Historiker Rainer Rettner, Autor mehrer Bücher zum Thema Alpinismus und zur Eigernordwand.
Der ‹Völkische Beobachter›, das Kampfblatt der Nationalsozialisten, habe in grossen Lettern und über mehrere Tage darüber geschrieben, dass die Titanen-Wand von vier Deutschen bezwungen worden sei.
Erfolg für Grossdeutschland
Tatsächlich waren es zwei deutsche und zwei österreichische Alpinisten. «Aber vier Monate nach der Annexion Österreichs wollte man zeigen, was Grossdeutschland alles zustande bringt», so Rettner.
Das nationalsozialistische Regime erkannte schnell das Propaganda-Potenzial der vier Bergsteiger: «Kaum abgestiegen, wurden die Alpinisten von einem Vertreter der deutschen Botschaft in Empfang genommen, der eine von deutschnationalen Sprüchen triefende Rede hielt», erzählt Rettner.
Am Tag darauf sei der deutsche Botschafter persönlich aus Bern auf die Kleine Scheidegg gekommen, um die Bergsteiger zu begrüssen. Anschliessend wurden die Alpinisten nach Breslau gefahren, da dort das deutsche Turn- und Sportfest stattfand.
Foto-Termin mit Hitler
In Breslau folgte dann der grosse Empfang für die vier Bergsteiger: Im Stadion wurden sie den jubelnden Massen als Volkshelden präsentiert und es gab gar einen Fototermin mit Hitler.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 24.07.2018, 6:50 Uhr.