Mittag des 20. Januar 1942: Im Berliner Villenvorort Wannsee treffen sich hochrangige Vertreter des NS-Regimes. Die 15 Parteifunktionäre, Staatssekretäre, die Spitzen der Verwaltung, SS- und Polizeibeamte. Viele sind jung: Die Hälfte ist unter 40 Jahre alt, gebildet. Jeder zweite besitzt einen Doktortitel, alle sind ehrgeizig und wollten Karriere machen.
Eingeladen in das noble Gästehaus «Am Grossen Wannsee» des Sicherheitsdienstes der SS hat Reinhard Heydrich, Chef des gefürchteten Reichssicherheitshauptamtes. Auf der Tagesordnung steht, in bürokratische Formeln und beschönigende Begriffe gehüllt, der Völkermord an den europäischen Juden. Heydrich hat alle wichtigen Institutionen im NS-Staat berücksichtigt und in die ehemalige Industriellenvilla bestellt.
Brüchige Argumentation
Bis heute wird in der Öffentlichkeit die Auffassung vertreten, auf der Wannsee-Konferenz sei die sogenannte «Endlösung der Judenfrage» beschlossen worden. «Wenn man bedenkt, wie viele Hunderttausende sowjetische Juden bereits vor dem Treffen umgebracht worden sind, dann ist diese Annahme brüchig», sagt Michael Wildt, Historiker für NS-Geschichte an der Humboldt-Universität.
Tatsächlich seien im NS-Staat so wichtige Beschlüsse wie die Judenvernichtung nicht auf «Konferenzen» getroffen worden, sagt Michael Wildt. Ausserdem hätten SS-Einsatzgruppen bereits im Juni 1941 mit der systematischen Ermordung von über 500'000 sowjetischer Jüdinnen und Juden begonnen.
Persönlicher Machtgewinn
Zweck der Wannsee-Konferenz war es, Sicherheitspolizei-Chef Reinhard Heydrich mit der Organisation des Holocaust zu beauftragen. Dieser wollte sich ausserdem der Mithilfe aller Reichsministerien versichern: etwa des Auswärtigen Amtes oder des Verkehrsministeriums, um den Eisenbahntransport der Deportierten zu gewährleisten.
In der einzigen – im Jahr 1947 aufgefundenen – Protokollabschrift der Konferenz steht nichts von einem Beschluss zur Judenvernichtung. Es ging vor allem um Heydrichs persönliche Karriere: Er wollte Reichskommissar für die sogenannte «Endlösung» werden.
Für Heydrich persönlich bedeutete die «Judenfrage», wie es im euphemistischen Sprachgebrauch hiess, einen Zugewinn an Macht innerhalb der NS-Hierarchie. Hauptzweck der Wannsee-Konferenz war es deshalb, seine «Bestellung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage» offiziell bekannt zugeben. So steht es im ersten Satz des Wannsee-Protokolls.
Konferenz ohne Diskussionen
Das war es, was Heydrich schon lange hatte werden wollen: Reichskommissar für die sogenannte «Endlösung». Als Heydrich 1936 im Alter von 32 Jahren zum Chef der Sicherheitspolizei aufgestiegen war, konnte er in seiner politischen Laufbahn nicht viel mehr werden. Über ihm stand nur noch SS-Chef Heinrich Himmler, und der war nur vier Jahre älter.
In der Wannsee-Villa wurde nur über eine einzige, aber für Millionen Menschen todbringende Frage diskutiert: Wer sollte überhaupt als «Jude» gelten? Wo lag die Trennlinie zu einem Halb- und Vierteljuden? Wie sollte mit den sogenannten «Mischehen» und deren Nachkommen verfahren werden?
Es war die zynische Denkweise von Bürokraten: Dabei sprachen die Konferenzteilnehmer ganz offen über die verschiedenen Techniken des Massenmordes. Einig war man sich auch in der Zahl der potenziellen Opfer: 11 Millionen Juden sollten der «Endlösung» zugeführt werden, wie es im Protokoll verniedlichend hiess.