Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt wie heute. Der Single-Haushalt ist mit 36 Prozent die meistverbreitete Wohnform, Tendenz steigend.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es undenkbar zu sagen, man wolle aus Überzeugung allein leben. Warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen?
SRF: Katja Kullmann, Sie befinden sich, wie Sie selbst schreiben, seit 14 Jahren am «Spielfeldrand der Liebe». Haben Sie das je geplant?
Katja Kullmann: Nein, das war nicht geplant. Das erste Drittel meines Erwachsenseins, zwischen 18 und 35, war ich immer fest liiert. Ich habe mich immer als «Beziehungstyp» verstanden. Und dann Mitte 30 – die Beziehung ging in die Brüche – habe ich mir überlegt, wie ich mich neu erfinde. Ich wollte mir etwas Zeit lassen, wie es viele Frauen tun, um mich zu regenerieren.
Dann bin ich hängengeblieben im Alleinsein, im allerbesten Sinne. Ich hatte sogar das Gefühl, ich blühe auf und ich bin jetzt sozusagen «zu Hause im Alleinleben». Was ich aber gar nicht als allein empfinde, da ich dadurch ein sehr soziales Wesen geworden bin.
Daniel Schreiber, haben Sie je geplant, allein zu leben?
Daniel Schreiber: Auch ich habe immer Beziehungen geführt, ganz lange, auch bis Mitte 30. Irgendwann ist es passiert, dass ich keine Beziehung mehr hatte. Ich habe sehr lange gezweifelt, ob ich allein ein gutes, erfülltes Leben führen kann ohne romantische Beziehung. Man hat viele verinnerlichte Vorstellungen. Heute finde ich es ein sehr schönes Lebensmodell.
Für Sie beide sind Freundschaften ein besonders wichtiges Thema in Ihren Büchern. Trotzdem sind sie oft kein Ersatz. Gerade, wenn es hart auf hart kommt, wenden sich Freunde der Kernfamilie zu.
Schreiber: Für mich war diese Idealisierung ein Problem. Ich führe ein sehr soziales, schönes Leben. Aber Freunde sind nicht immer für mich da, ich bin auch nicht immer für sie da. Sie verstehen mich auch nicht komplett. Wenn wir an diesen Idealisierungen von Freundschaft festhalten, dann tun wir den realen Beziehungen zu unseren Freunden unrecht.
Kullmann: Für mich ist die Zufallszwischenmenschlichkeit wahnsinnig wichtig: Begegnungen auf Reisen, am Flughafen, in der Warte-Lounge. Diese momentanen Geselligkeiten, oft situativ, der Kioskmann in meinem Viertel, der weiss, welche Zigarettenmarke ich rauche und der mir sein Leben in Portionen erzählt.
Man kann mit sich selbst genauso Krisen erleben oder mal am Ende sein, wie ich es aus meinen langjährigen Beziehungen kenne.
Auf diese Leute kann man sich nicht verlassen, wenn man pleite ist oder seine Wohnung verliert, das ist schon klar. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat von «in der Welt sein» gesprochen. Und dieses «in der Welt sein» ist etwas, was ich sehr schätze und was mich auch fasziniert.
Auch in klassischen Liebesbeziehungen ist man nicht immer füreinander da, fühlt sich vielleicht allein, weil man diese Beziehungen überfrachtet?
Schreiber: Es gibt Studien, die besagen, dass heterosexuelle Männer sich einsamer fühlen, wenn sie nicht in einer Beziehung sind, und heterosexuelle Frauen, wenn sie in einer Beziehung sind.
Der soziale Wandel ist sehr viel schneller als die kulturelle Erzählung um Zweisamkeit und Partnerschaft.
Kullmann: Es gibt Höhen und Tiefen, auch im Alleinleben. Es wäre völlig falsch zu sagen, es wäre das bessere, schönere, gloriosere Leben. Es gibt auch Tiefpunkte.
Man kann mit sich selbst genauso Krisen erleben oder mal am Ende sein, wie ich es aus meinen langjährigen Beziehungen kenne. Für mich ist die Summe von Glück und Kummer nach zwei etwa gleich langen Perioden von Beziehungen und Alleinsein ungefähr gleich.
Sie schreiben in Ihrem Buch, die romantische Zweierkiste sei – mit Verweis auf den Philosophen Jean-François Lyotard – die «letzte Grosserzählung». Hält sie unsere Gesellschaft zusammen?
Schreiber: Ich glaube nicht, dass diese Grosserzählung jemals sterben wird. Was wir erleben ist, dass der soziale Wandel sehr viel schneller ist, als die kulturelle Erzählung um Zweisamkeit und Partnerschaft. Was gerade passiert, ist, dass wir an diesen kulturellen Erzählungen arbeiten und diese nachjustieren.
Diese Vorstellung von der romantischen Erfüllung hängt noch mehr an heterosexuellen Menschen.
Kullmann: Es gibt den Begriff des «Cultural Lag». Die Menschen lieben anders als die Erzählung oder die Gesetzeslage. Diese hinkt hinterher. Ich glaube, wir leben gar nicht in einer einsameren Welt angesichts dieser Ein-Personen-Haushalte.
Da ist die queere Gemeinschaft den Heteros voraus, ich spreche da von «Hetero-Drama»: Diese Vorstellung von der romantischen Erfüllung hängt noch mehr an heterosexuellen Menschen, während in der queeren Community Dinge wie Vertrauen, Zuverlässigkeit, Langzeitbindung in freundschaftlicher Art, anders, mutiger erprobt werden, jenseits dieses heterosexuellen Ehekonzepts. Das schwappt langsam auf die Heteros über.
Die Fragen stellte Barbara Bleisch. Das Gespräch ist ein Auszug aus der Sternstunde Philosophie vom 24. April 2022.