Für das neue digitale Filmarchiv «Open Memory Box» haben 149 Familien private Filmaufnahmen zur Verfügung gestellt – über 400 Stunden deutsche Erinnerung als Schmalfilm. Die Aufnahmen stammen aus dem Zeitraum von 1947 bis 1990 und sind zugänglich für Forschung und DDR-Interessierte. Ein Projektleiter erklärt, wie dabei tradierte Archivansätze hinterfragt und Stereotypen aufgebrochen werden sollen.
SRF: Was gibt es bei «Open Memory Box» zu sehen?
Alberto Herskovits: Die Sammlung beinhaltet alles. Kindergeburtstage, Begräbnisse, 1. Mai-Kundgebungen und Republikfluchten wurden gefilmt, aber auch Urlaube, Einschulungen, Jugendweihen, Ostern, Weihnachten, Beziehungen und Kinder, die aufwachsen. Ein Fülle von Material.
Was sagt das Archiv aus über das Land und die Zeit im Osten?
Es vermittelt ein Zeitgefühl, das wir so vielleicht noch nicht gesehen haben. Die Geschichtsforschung und die Medien haben sich aus guten Gründen über sehr viele Jahre hinweg mit den grossen politischen Fragen beschäftigt und dabei den privaten Blick auf die DDR ausser Acht gelassen. Das ist das Neue und das Besondere unseres Projektes.
Das Archiv vermittelt ein Zeitgefühl, das wir so vielleicht noch nicht gesehen haben.
Wurde in der DDR anderes gefilmt als im Westen?
Der grösste Unterschied ist wahrscheinlich, dass es im Vergleich zu ‹West-Bildern› weniger oder vielleicht gar keine Statussymbole gibt. Es gibt keine teuren Autos, keinen teuren Schmuck, die Weihnachtsfeste fokussieren nicht so sehr auf teure Geschenke, auch die Reisen sind einfach. Es ist ein Leben, das andere Voraussetzungen und eine andere Kultur entwickelt hat.
Wie sieht es aus mit Klischees wie FKK oder dem Trabi?
Den Wiedererkennungswert gibt es natürlich. Aber auch eine Menge Betrachtungen, die nicht unbedingt den Klischees entsprechen.
Menschen etwa, die ihren Arbeitsalltag beschrieben habe, die zum Beispiel ihre Arbeit in der Sowjetunion betrachtet und aufgenommen haben. Wir haben auch viele Aufnahmen von Menschen, die sich systematisch mit einem Hobby beschäftigt haben.
Es gibt auch Menschen, die die Grenze gefilmt haben, obwohl sie wussten, dass es eigentlich nicht erlaubt war. Sie haben die Grenze in Auslandsurlauben gefilmt und Wert darauf gelegt, auch das «Filmen strikt verboten»-Schild aufzunehmen.
Das Archiv befriedigt eine Schaulust, es soll sich aber auch an die Forschung richten. Welche Fragen könnten Forschende stellen?
Die Forschung könnte sich darauf konzentrieren, inwieweit wir über die privaten Alltagsbilder Rückschlüsse ziehen können, wie Menschen sich im Verhältnis zur Macht verhielten.
Körperauffassungen, Frauenbilder, Familienbilder, aber auch ästhetische Fragen wie die Bildkomposition oder die Kameraführung sind auch mögliche Themen. Es gibt eine Fülle von Forschungs-Aspekten, auf die wir uns freuen.
Sie leben in Schweden, der Co-Projektleiter Laurence McFalls ist ein kanadischer Forscher. Sie beide sind keine Deutschen. Was ermöglicht Ihnen dieser Blick von aussen?
Die Tatsache, dass weder ich noch mein Projektpartner aus Deutschland kommen, bedeutet für die Menschen, die ihr Material zur Verfügung gestellt haben, dass wir einen offeneren Blick haben.
Zudem müssen sie nicht befürchten, dass dieses Projekt Teil einer für die Menschen aus dem Osten oft erlebten polarisierten Debatte wird.
Das Gespräch führte Sarah Herwig.