Das Wichtigste in Kürze:
- Menschen mit Behinderung haben in der Schweiz Anrecht auf «Persönliche Assistenz» – Assistenten, die im Alltag helfen. Sie sollen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
- Behinderte werden dadurch zu Arbeitgebern: Sie stellen ihre Assistenten selbst an.
- Das Modell bringt den Teilnehmenden eine deutlich grössere Autonomie, verlangt von ihnen aber auch viel Arbeit und Verantwortung.
Meral Yildiz ist seit der Geburt aufgrund eines Sauerstoffmangels behindert. Sie gehe relativ gut damit um, sagt sie. «Mal mehr, mal weniger. Aber das ist normal.»
Seit gut einem Jahr wohnt die 34-Jährige im Baselbiet in ihrer ersten eigenen Wohnung, einer rollstuhlgängigen Parterre-Wohnung. Dadurch hat sich in ihrem Leben viel verändert. Jetzt führe sie ein «annähernd normales Leben», sagt sie.
Dieses Leben hält für Meral Yildiz viele neue Aufgaben bereit: Den Haushalt führen, Einkäufe planen, Wäsche wechseln. Alle diese Aufgaben waren am Anfang neu für sie: «Diese Dinge kannte ich nicht. Das ist etwas, da hat man das Gefühl, man lebt.»
«Alles in meiner Hand»
Meral Yildiz ist stark körperbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie hat schon als Kind im Heim gelebt und kannte bis vor Kurzem nichts anderes.
Im Heim wurde das Denken für sie übernommen, sagt Yildiz: «Man bekommt alles, das ganze Leben ist organisiert. Jetzt ist alles in meiner Hand.»
Selbstbestimmt und eigenverantwortlich
«Persönliche Assistenz» heisst das Wohnmodell, für das sich Meral Yildiz entschieden hat. Seit 2012 können Personen in der Schweiz, die eine Hilflosenentschädigung beziehen, sich dafür anmelden.
Die «Persönliche Assistenz» soll es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Das ist der Kern der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 unterzeichnet hat.
Sie sieht unter anderem vor, dass Menschen mit Behinderungen «gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben.»
Verantwortung über sieben Jobs
Meral Yildiz hat entschieden, dass sie alleine wohnen möchte. Damit dies möglich ist, wird sie von Assistierenden unterstützt, die viele Aufgaben im Alltag für sie übernehmen.
«In meinem Fall gehören Körperpflege und sich Anziehen dazu, in den Rollstuhl setzen, aufs WC gehen, kochen, putzen, Hilfe beim Ausfüllen von Papieren oder auch Arztbesuche», sagt Yildiz.
Sie hat sieben solcher persönlicher Assistenten angestellt. Damit ist sie Arbeitgeberin, so wie es das Modell «Persönliche Assistenz» vorsieht: Die Betroffenen organisieren alles selbst – vom Stellenausschrieb über die Verträge bis hin zur monatlichen Abrechnung des Lohns.
Das ist viel Arbeit. Mit dem Modell käme nicht jeder zurecht, sagt Meral Yildiz: «Der Vorteil ist, dass man mehr Freiheiten hat. Dafür hat man auch mehr Verantwortung. Das muss man auch können, diese Verantwortung tragen. Ich denke, dieses System ist nicht für jedermann.»
Chefin mit Behinderung
Das Modell versetzt Menschen mit einer Behinderung in die Rolle der Chefin. Das wiederum versetzt jene in Staunen, die sich bei Yildiz als persönliche Assistenten bewerben: «Ich merke, dass die Leute nicht akzeptieren können, dass ich Arbeitgeberin bin. Ich glaube, das ist ein Umdenken: ‹Sie ist jetzt meine Chefin.› Das ist schon für viele komisch.»
Von der IV bekommt Yildiz jeden Monat rund 7000 Franken. Die Höhe des Beitrags hängt vom Grad der Behinderung ab. Meral Yildiz erhält den Höchstansatz.
Sie sagt, das reiche gerade aus, um alle Kosten zu decken. Mit dem Geld der IV bezahlt sie die sieben Stunden, in denen die Assistenten täglich bei ihr zu Hause sind.
Sagen dürfen, was man will
An ihre Rolle als Chefin muss sich Meral Yildiz noch gewöhnen. Sie sagt: «Ich bin gar keine gute Chefin. Noch nicht. Ich bin manchmal zu lieb.» Sie sei zwar besser geworden, in diesem «Chef-Ding».
Aber ihr sei diese Position doch noch sehr fremd: «Diesen Anspruch haben zu dürfen, nicht ins ‹Bitti-Bätii› zu verfallen. Sondern einfach zu sagen: ‹Ich möchte es so und so.› Das muss man erst mal lernen. Und man muss wissen: ‹Was will ich eigentlich?›»
Dass Menschen mit einer Behinderung selbstständig in den eigenen vier Wänden wohnen, ist noch nicht selbstverständlich. Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen haben sich im Jahr 2015 nur rund 1500 Personen für dieses Modell entschieden. Das sind halb so viele, wie ursprünglich erwartet.