Es beginnt meist nach 45. Da drehen sich die Gespräche nicht mehr so oft um die eigenen Kinder. Thema sind dann zunehmend die eigenen Eltern. Sie leben noch, sind selbstständig. Aber da und dort zeigt sich, dass sie schwächer werden und Unterstützung brauchen. Und das je länger, desto mehr.
Eine stille Revolution
Es ist ein historisches Novum: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern so lange gedauert wie heute.
Es gibt nicht wenige Mitsiebziger, die noch Kind sind, weil ihre Eltern noch leben. In nur 150 Jahren hat sich die Lebenserwartung verdoppelt und der Trend hält an. 50 Prozent der heute geborenen Mädchen werden 100 Jahre alt werden. Bei den Jungen sind es etwas mehr als 30 Prozent.
Eine längere Beziehung heisst aber nicht immer eine bessere Beziehung, denn das Miteinander der späten Jahre ist ebenso anspruchsvoll wie vorbildlos. Mindestens drei Dinge sind neu.
1. Die Fürsorge verteilt sich auf weniger Kinder
Die alten Eltern hatten nicht selten mehr Geschwister, als an einer Hand abzuzählen waren. Sie selbst aber haben in der Regel viel weniger Kinder. Wenn heute also alte Eltern gebrechlich werden, teilen sich weniger Kinder die Sorge, Hilfe und Unterstützung für ihre Vorfahren.
Meist sind die Töchter an vorderster Front. Wenn es nur Söhne gibt, übernehmen nicht selten die Schwiegertöchter die Pflege. Altersexperten nennen diese langlebigen und kinderarmen Beziehungen auch Bohnenstangenfamilien.
2. Berufstätige Töchter haben weniger Zeit
Die Emanzipation der Frauen schaffte ebenfalls ein soziales Novum. Mittelalte Töchter von heute führen in der Regel ein anderes Leben als ihre Mütter. Erst recht unterscheidet sich ihr Leben von dem ihrer Grossmütter.
Die Töchter von heute sind meist berufstätig und nicht ohne Weiteres grenzenlos für Pflegearbeit abkömmlich. Mehr noch: Wenn sie selber Kinder haben, kommen sie in einen zweiten Vereinbarkeitskonflikt. Sie können weniger für ihre unterstützungsbedürftigen Eltern da sein, als denen oft lieb wäre. Eine Quelle für quälende Schuldgefühle.
3. Pflege muss aus der Ferne organisiert werden
Früher blieb man in der Nähe. Die Migration und die veränderte Arbeitswelt bringt es mit sich, dass die alten Eltern und ihre erwachsenen Kinder oft weit voneinander entfernt leben. Eine schnelle Handreichung ist da nicht möglich. Der Überraschungsbesuch fällt weg.
Das Global Village hilft zwar – Skype und E-Mail sei dank – manche Klippe zu nehmen, denn auch viele Alte von heute sind vernetzt. Trotzdem: Die Pflege muss oft aus der Ferne organisiert werden. Die körperliche Nähe zu den Alten haben heute eher fremde, vertrauenserweckende Profis.
Dieses Caremanagment kann seelisch und finanziell aufwendig sein. Die Entlastung bringt gleichzeitig eine neue Belastung. Und das lässt so manche erwachsene Kinder ganz schön alt aussehen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 9.8.2017, 9:02 Uhr