Erst vor Kurzem wurde Heidi Kastner während einer Verhandlung Ziel eines Wutanfalls. Die Gerichtspsychiaterin hatte gerade ihr Gutachten präsentiert, als eine Beschuldigte ein Mikrofon in ihre Richtung warf.
Das Mikrofon prallte an der Plexiglas-Trennscheibe ab und flog wie ein Bumerang zurück zur Beschuldigten. Fazit: Eine Blutende auf der Anklagebank, noch wütender als zuvor.
Wut signalisiert Grenzüberschreitung
Wut ist zuerst einmal eine Basisinformation: eine Emotion, die jede Kultur und jeder Mensch kennt, vielleicht auch die Tiere, erklärt Heidi Kastner. Wut ist eine unmittelbare Rückmeldung darauf, wenn jemand unsere Grenzen überschreitet. Sie ist ein wichtiges Warnsignal zu handeln oder sich zu wehren.
Wer wütend wird, weil der Partner immer wieder die leere Zahnpastatube ins Glas stellt, statt sie durch eine neue zu ersetzen, der sei nicht wegen der leeren Tube. Vielmehr fühle man sich gekränkt, weil man denke: Mein Partner schätzt mich nicht.
Zu Unrecht geächtet
In unserer Gesellschaft sei Wut geächtet und negativ bewertet. Schon Kinder würden aufgefordert, dieses Gefühl möglichst zu unterdrücken. Zu Unrecht und sehr zum Schaden eines gelingenden Zusammenlebens, sagt Heidi Kastner.
Denn wer dieses Gefühl immer im Zaum halte, schaffe sich andere Ventile: Zynismus, der beleidigt und entwertet, psychosomatische Erkrankungen, chronisches Gekränkt-Sein.
Oder der lange zurückgehaltene Wut-Stau entlade sich in einem fatalen Affekt-Delikt. Heidi Kastner weiss als Gerichtspsychiaterin nur zu genau, wohin Wut führen kann.
Vom Mustergatten zum Doppelmörder
Eine Analyse sei die Bedingung für eine gesunde und konstruktive Wut. «Ich bin eine Advokatin der Wut und plädiere für dieses verpönte Gefühl», sagt Heidi Kastner. Wut sei oft Indiz für eine Grenzüberschreitung, für ein Unbehagen.
Wie fatal solche Grenzüberschreitungen sein können, beschreibt Kastner in ihrem Buch «Wut – Plädoyer für ein verpöntes Gefühl»: Sie schreibt von einem Mann, der unauffällig lebte, immer nur machte, was andere von ihm verlangten. Er bemühte sich, seiner Mutter und seiner Frau zu genügen.
Als ihm seine Frau eines Tages eröffnete, dass sie ihn verlassen wollte, zeigte er zum ersten Mal eine brachiale Entschlusskraft: Er erwürgte seine Frau und ermordete anschliessend seine Mutter im Pflegeheim.
Kastner zitiert den französischen Philosophen Michel de Montaigne: «Alle offen zutage tretenden Laster sind weniger schlimm; am gefährlichsten werden sie, wenn sie sich unter dem Mantel seelischer Gesundheit verstecken.»
Konstruktive Wut
Wut kann sehr wohl konstruktiv sein. Das zeigen zum Beispiel die wütenden Frauen, die sich das Frauenstimmrecht erkämpft hatten. Oder die Wut der «Black Lives Matter»-Bewegung, die ein Umdenken im Kampf gegen die Gewalt gegen People of Color erzwang.
Hier wird Wut zum Katalysator, der den Blick auf etwas richtet, das andere zuvor nicht erkannt oder in Betracht gezogen hat. Blindwütiges Handeln solle jedoch nicht das Ziel sein. Auch nicht, in der Wut zu verharren – selbst wenn es häufig der einfachere Weg sei. Stattdessen plädiert Heidi Kastner dafür, dass die Wut Anleitung für das Handeln ist, um die Wut schliesslich aufzulösen.