Wer alles mit stoischer Gelassenheit nehmen kann, ist beneidenswert. Wobei den Neid – den sollten Sie sich abgewöhnen. Denn er ist die giftigste aller Emotionen.
Statt den Vergleich mit anderen zu suchen, sollten wir besser auf das fokussieren, was sich ändern lässt. Das sind vielleicht nicht unser Kontostand und unsere Körpermasse – wohl aber unsere Einstellungen zu diesen. So denkt ein echter Stoiker.
Taugliche Alltagsrezepte
Die stoische Philosophie hält viele Alltagsweisheiten bereit. Sie finden sich zum Beispiel in den Schriften von Seneca, Marc Aurel und Epiktet: Versinke nicht im Selbstmitleid, nicht einmal im Mitleid mit anderen. Mitleid hilft keinem.
Ertrage das Schicksal mit Gelassenheit, denn du kannst es sowieso nicht ändern. Genüge dir selbst und mach dein Glück nicht von anderen abhängig. Keine schlechten Rezepte für den Alltag – zumal in einer Zeit, in der sich viele im Dauerwettbewerb mit anderen fühlen.
Kein Wunder also, verkaufen sich diese antiken Rezepte zurzeit ganz gut. Buchtitel wie «Die Weisheit der Stoiker» des Philosophen Massimo Pigliucci oder «Der tägliche Stoiker» des Beraters Ryan Holiday stürmen die Bestenlisten. Auch der erfolgreiche Kolumnist Rolf Dobelli bezieht sich in seinem Buch «Die Kunst des guten Lebens» explizit auf die Stoa.
Nicht die erste Renaissance der Stoa
Dabei ist das bei Weitem nicht die erste Renaissance, die die Stoa erlebt. Gerade in Krisenzeiten hat die Stoa immer wieder Konjunktur, sagt Christoph Halbig, Professor für Philosophie an der Universität Zürich. So beriefen sich während des Dreissigjährigen Kriegs viele Staatsmänner auf diese Philosophie.
Als bekanntes Zeitdokument nennt Halbig das Gemälde des Niederländers Rubens «Justus Lipsius und seine Freunde» von 1611. Der Philosoph Lipsius kämpfte für eine Wiederbelebung der Stoa inmitten der Gräuel des Krieges. Deshalb setzt Rubens den Stoiker Seneca im Hintergrund des Bildes in Szene – in Form einer Büste.
Angst vor dem Kontrollverlust nehmen
Die stoische Philosophie entwickelte sich in einer Zeit der Krise, die modernen Krisen durchaus gleicht. Die griechischen Kleinstaaten gingen unter in den hellenistischen Grossreichen und später im römischen Imperium. Die Menschen wurden mit neuen ethnischen und religiösen Überzeugungen konfrontiert.
Die Stoa setzte dem Gefühl der Fremdheit die Idee entgegen, dass alle Menschen gleich seien. Statt im Kleinstaat seien sie im Kosmos beheimatet – ganz ähnlich predigen wir heute das humanistische Ideal der Gleichheit aller Menschen.
Doch das reichte nicht aus, um den Menschen die Angst vor Kontrollverlust zu nehmen. Die stoische Philosophie versucht diese Angst zu überwinden, indem sie nahelegt: Das Glück hängt nicht von äusseren Faktoren ab. Genüge dir selbst, denn das kann dir keiner nehmen.
Glück ist eine Fähigkeit
Angst vor Kontrollverlust ist heute einer der Hauptgründe für Stresserkrankungen. Tobias Ballweg, Leitender Psychologe und Philosoph am Sanatorium Kilchberg, arbeitet deshalb seit Jahren mit Rezepten der Stoa.
Patienten müssten verstehen, dass Glück keine «Widerfahrnis» sei und auch keine Leistung, die man sich erarbeiten könne, sagt Ballweg. Dem Stoiker gehe es um Glücksfähigkeit. Glücksfähig sind Menschen, die ein geklärtes Verhältnis zu den eigenen Ansprüchen entwickeln können.
Dazu zählt für Ballweg auch die Einsicht, dass Kontrollverlust zum Leben dazu gehört. Ausschlaggebend sei es, zwischen dem, was sich ändern lasse, und dem, was wir annehmen müssen, trennen zu lernen.
Auch Gefühle gehören kultiviert
Für Christoph Halbig geht ein wahrhaft stoischer Umgang mit Emotionen allerdings zu weit. Die stoische Idee der Apathie, der totalen Befreiung von Gefühlen, negiere, dass Emotionen durchaus sinnvoll und angebracht sein können. Mitleid hilft uns zum Beispiel, uns in andere einzufühlen. Wut gibt uns die Kraft, uns gegen Unrecht zu wehren.
Ausserdem habe die Stoa die Tendenz, Unglück zu banalisieren, sagt Halbig. Wenn etwa das eigene Kind sterbe, sei der Verweis darauf, dass man als Eltern immer wisse, dass alle Menschen sterblich seien, nicht hilfreich.
Halbig zieht dem gegenüber eine aristotelische Haltung vor: Aristoteles legt uns nahe, unsere Gefühle nicht zum Schweigen zu bringen, sondern sie zu kultivieren. Schreiendes Unrecht verdient eben nicht nur nüchterne Kenntnisnahme und Engagement zu seiner Überwindung – sondern ebenso Empörung.