Die Technische Universität Berlin hat in einer Studie Antisemitismus im Internet untersucht. Vier Jahre lang durchforsteten Sprachwissenschaftler insgesamt 300’000 E-Mails und Beiträge in den sozialen Medien. Das Fazit der Studie: Judenhass ist integraler Bestandteil der Netzkultur und zwar nicht nur in Neonazi-Nischen. Diese Tatsache findet Religionsredaktorin Judith Wipfler besonders erschreckend.
SRF Kultur: Viele User nehmen seit längerem wahr, dass der Hass im digitalen Raum zunimmt. Hat die Studie etwas Neues zutage gefördert?
Judith Wipfler: Dieses Bauchgefühl teilen auch wir Journalisten. Nun können diese Wahrnehmungen empirisch festgemacht werden. Zum ersten Mal gibt es eine Studie mit einer umfassenden Datenbasis. Die Forscherinnen und Forscher sprechen von einer Omnipräsenz der Judenfeindschaft im Netz. Laut den Wissenschaftlern sind über die Hälfte der judenfeindlichen Äusserungen klassische antisemitische Klischees. Ein Drittel der ganzen Aussagen wenden sich pauschal gegen den Staat Israel und 12 Prozent sind Holocaustleugnungen.
Laut der TU Berlin ist der Antisemitismus zu einem «integralen Bestandteil der Netzkultur» geworden. Was ist damit gemeint?
Antisemitismus ist omnipräsent und Beispiele finden sich nicht nur im Darknet oder auf Neonazi-Seiten, sondern mitten in der Gesellschaft. Juden werden als «Unrat» oder «Krebsgeschwüre» entmenschlicht und Gewaltfantasien hemmungslos geteilt.
Die antijüdischen Stereotypen sind in der alltäglichen Kommunikation zu finden.
Besonders wichtig an dieser Studie finde ich, dass sie zeigt, dass diese antijüdischen Stereotypen in der alltäglichen Kommunikation zu finden sind und nicht nur in wirren Propagandageschichten.
Verwendet werden die alten, antijüdischen Bilder, etwa der ewige Jude, der wandernde Jude, der Jude, der die Weltherrschaft anstreben und die Geldwirtschaft dominieren würde, bis hin zu den Ritualmordlegenden, die im Mittelalter im christlichen Kontext erfunden wurden.
Diese Legenden werden aber häufig anders erzählt: Nicht mehr christliche Knaben wurden angeblich geschändet, sondern arabische Kinder. Es ist krass, wie langlebig diese Bilder sind. Die antisemitischen Stereotypen fanden Eingang in neue Milieus, etwa unter Muslimen. Hier gedeihen sie und werden neu vermischt.
Die alten, antijüdischen Bilder des Juden, der die Weltherrschaft anstrebe, sind langlebig und werden in neuen Milieus verwendet.
Von muslimischem Antisemitismus war in letzter Zeit öfters die Rede. Wie stark geht die Berliner Studie auf dieses spezifische Phänomen ein?
Die Studie widmet dem muslimischen Antisemitismus einen grossen Abschnitt. Einerseits zeigt sich: Die Hasstiraden gegen Juden beschränkt sich überhaupt nicht nur auf das muslimische Milieu. Und andererseits spielt der Israel-Hass, bei dem man vermuten würde, dass er bei Muslimen oder arabischstämmigen Menschen grösser ist, darin nur zu einem Drittel eine Rolle.
Die Anti-Israel-Haltung macht nur zu 30 Prozent den muslimischen Antisemitismus aus. Der Rest sind die klassischen, christlichen Antijudaismen, die weitertradiert und in den Islam integriert werden. Das ist ziemlich erschreckend.
Es muss möglich sein, dass man Israel kritisiert, ohne deswegen antisemitisch zu sein. Genau diese Unterscheidung führt aber zu vielen Diskussionen. Was sagt die Studie dazu?
Die Studie hilft, damit die Diskussion sachlich und sauber seziert werden kann. Es geht nicht um sachgerechte Kritik am Staat oder der Regierung Israel, sondern um Hass und «hate speech».
Die Studie hat festgestellt, dass diese antijüdischen Äusserungen zu 33 Prozent vermischt werden mit anti-israelischen Äusserungen. Die Forscher gehen so weit zu schreiben: «Der israelbezogene Judenhass ist dabei tendenziell auf dem Weg, ein politisch korrekter Antisemitismus zu werden.» Die Studie warnt und weist darauf hin, dass die politische Debatte genau analysiert werden muss, damit Dämonisierungen nicht kaschiert werden mit vorgeblicher Kritik.
Das Gespräch führte Beatrice Kern.